Edgar Selge spielt Houellebecqs "Unterwerfung"

Eine Dame hält das lange vor den Kammerspielen nicht mehr gesichtete Schild „Karte gesucht!“ in die Höhe. Viele ältere Herrschaften, die seit Jahren dieses Haus gemieden haben, sind wieder da. Matthias Lilienthal kann sich über seine ausnahmsweise ausverkaufte Kammer 1 nicht mal richtig freuen. Er beißt im Kassenraum ins sein T-Shirt. Dann versucht er auch noch Wünsche der Brandschutzdirektion zu erfüllen, die ihr Kartenkontingent bis zum letzten Platz ausreizen möchte.
Drinnen spielt Edgar Selge eine Bühnenfassung von Michel Houellebecqs „Unterwerfung“. Allein die bloße Rückkehr dieses ans Deutsche Schauspielhaus in Hamburg verlorenen Sohnes sorgt bereits für wohlige Gefühle bei der alten Kammerspiele-Familie. Und der 70-Jährige spielt wieder seine Leib- und Magenrolle eines verkopften Stadtneurotikers.
Der ist im Roman zwar keine 50 Jahre alt. Selge wiederlegt aber mühelos die Lieblingsthese des französischen Schriftstellers zu früh einsetzendem körperlichen Verfall. Wie ein junger Gott turnt er im Drehkreuz von Olav Altmann herum, das wieder einmal einen Darsteller körperlich einschränkt, um Höchstleistungen aus ihm herauszukitzeln. Nur im zweiten Teil lässt sich Selge zum großen Hallo des Publikums mal beim Transport eines Tisches helfen, nicht ohne zu versichern, dass hier keinesfalls Mitspieltheater aufgeführt würde.
So jung kemma nimma zam
„Unterwerfung“ ist vor allem ein schöner Abend unter dem Münchner Biergarten-Motto „So jung kemma nimma zam“. Houellebecqs Geschichte der schleichenden Islamisierung Frankreichs unter dem Präsidenten Mohammed Ben Abbes tritt etwas in den Hintergrund. Gelacht wird über erzählten Sex, Campus-Intrigen und alkoholische Getränke unseres von Gott geliebten Nachbarlandes. Aber nie so, dass es einem im Hals steckenbleiben würde.
Zunehmend beschleicht einen der Eindruck, in einer besseren Lesung zu sitzen. Was ist der ästhetische Mehrwert der Bühne? Letztlich reduziert Karin Beiers Inszenierung die Komplexität dieses an Ironie reichen Buchs gleich am Anfang. Houellebecq singt, während Selge als er selbst die Bühne betritt und den Zuschauern die Plattenhülle mit dem Bild des Schriftstellers zeigt. Im zweiten Teil schmiert er sich eine schmerzlindernde Salbe erst auf die Füße und dann ins Gesicht und sieht aus wie der Houellebecq auf dem Cover.
Wieder mal reingefallen. Die Gleichsetzung des Autors mit seinen Figuren ist unausrottbar, da kann sich die Literaturwissenschaft den Mund noch so fusslig lehren. Dass Selge die vielen Figuren von „Unterwerfung“ zu letztlich einer einzigen verschmelzen lässt, zieht aus diesem Missverständnis eine Konsequenz, die zwar schlüssig wirkt, die vielen ironischen Brechungen des Romans aber glattbügelt.
Das Theater kennt keinen Konjunktiv
Besonders problematisch wird das am Schluss. Da stellt sich die Hauptfigur vor, wie es wäre, zum Islam überzutreten, und den anschließenden Cocktailempfang im wieder eingeführten Professorentalar zu genießen. Im Theater gibt es keinen Konjunktiv. Karin Beier lässt das Kreuz in der Bühnentiefe verschwinden. Selge zieht ein weißes orientalisches Gewand über, während ein Scheinwerfer das Publikum blendet und in Burkas gehüllte Statisten den Müll der westlichen Zivilisation entsorgen.
Das ist ein platter Übertritt, nicht dessen Möglichkeit. Allerdings bleibt dem Zuschauer nach zweieinhalb Stunden der Anfang des Texts gegenwärtiger als bei einer mehrfach unterbrochenen Lektüre von knapp 300 Seiten. Deshalb kehrt das Theater die zentrale Ironie des Romans womöglich stärker heraus: dass der Islam den spirituellen und sexuellen Mangel zu heilen vermag, an dem der frustrierte westliche Akademiker leidet. Zumindest, wenn hinter verschlossenen Türen weiterhin Alkohol ausgeschenkt wird und das alles von den Golfstaaten so opulent gesponsert wird wie die neue, unterworfene Sorbonne dieses Romans.
Kein Wunder, dass sich Lilienthal ins Hemd beißt
Das Opfer der Islamisierung sind in Houellebecqs Roman die Juden: Die Freundin der Hauptfigur wandert von Frankreich nach Israel aus. Da wäre angesichts der aktuellen Debatte in Deutschland eine Zuschärfung wichtiger als der derzeit unvermeidliche Witz zum Kreuz-Erlass. Und die Ironie, dass nicht laue Linke, sondern vor allem ein katholischer Ministerpräsident und andere Kulturchristen aus Sehnsucht nach einer konservativen Revolution dem Islam zum Durchbruch verhelfen, haben Baier und Selge leider auch nicht sonderlich interessiert.
Houellebecqs Spiel mit Ambivalenzen bleibt erhalten. Am Ende gab es stehende Ovationen für den Publikumsliebling Selge. Alle sechs Vorstellungen sind ausverkauft. Lilienthal hätte das letztlich auch haben können. Aber seine Leute haben im Herbst 2016 eine Bühnenfassung von „Unterwerfung“ geprobt, aber nicht bis zur Bühnenreife gebracht. Die Absage dieser Inszenierung und der gleich anschließende Schwund im Ensemble waren der Anfang vom Untergang. Kein Wunder, dass sich der Intendant jetzt ins Hemd beißt.
Wieder am 4., 5. und 6. Juni, 19.30 Uhr in der Kammer 1, ausverkauft, eventuell Karten an der Abendkasse