Die Wiederaufnahme von "Boris Godunow" mit Kirill Petrenko in der AZ-Kritik
Ein Raunen ging durchs Nationaltheater, als eine Demonstrantin ihre Tafel umdrehte und Wladimir Putin sichtbar wurde. Vor dem Hintergrund der Krim-Krise und der Vorgänge auf dem Kiewer Maidan hat Calixto Bieitos Interpretation von Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ als Studie über Macht, Verrohung und Volksverdummung eine eigene Dynamik: Sie bewegt einen aus aktuellem Anlass stärker als in der Premiere vor gut einem Jahr.
Der überragende Premieren-Boris Alexander Tsymbalyuk war ein freundlicher, in sich gekehrter, an der Seele kranker Technokrat mit erzerner Stimme. Seine Rolle hat nun der Premieren-Pimen Anatoli Kotscherga übernommen. Die Stimme ist viel heller, er gestaltet die Rolle traditioneller, mit heftigen Affektgesten und einer Tendenz zum Sprechgesang. Den Tod des Boris, in der Premiere ein die Erlösung streifendes Erlöschen, wirkt bei ihm theatralisch. Aber es spricht für diese finstere Inszenierung, dass sie einen gröberen Protagonisten aushält, der eher wie ein von der Geschichte überrollter älterer Funktionär wirkt.
DVD und Live-Erlebnis ergänzen sich
Ein besserer Boris wäre wohl der kurzfristig als Pimen eingesprungene Este Ain Anger mit seinem schwarzen, knorrigen Bass. Die übrige Besetzung versammelt ausgezeichnete singende Darsteller wie Markus Eiche als populistischer Schtschelkalow und Gerhard Siegel als drahtziehender Schuiskij mit dem Geldkoffer.
Der von Sören Eckhoff einstudierte Chor singt noch runder als in der von Kent Nagano dirigierten Premiere. Sein Nachfolger Kirill Petrenko betont in ähnlicher Weise die Herbheit des Werks, ohne jedoch den Klang zu übersteuern, wie es sein Vorgänger tat. Seine Deutung ist ähnlich, die Formung runder, das Spiel des Staatsorchesters noch reicher. Die Steigerung der Krönungsszene schockt noch immer so sehr, dass sich keine Hand zum Zwischenapplaus rührt.
Die eben erschienene DVD mit der Premierenbesetzung ergänzt das Erlebnis im Theater perfekt – es ist wirklich bestürzend, welches musikalische Volksdrama und welche Geschichten hier allein die Gesichter der Chormitglieder erzählen.
Wieder am 20., 23., 28. und 31. März im Nationaltheater. Die DVD ist bei Belair Classics erschienen