"Die weiße Dame": Fiese Intrigen zu süffiger Musik

Zur Ouvertüre lässt ein kleines Videokunstwerk die Opernhauswerdung der Welt verfolgen und wie sie sich ganz allmählich auf den Schauplatz der beginnenden Vorstellung fokussiert. Eine mittelalterliche Burg erhebt sich aus der wildromantischen Landschaft der schottischen Highlands, in der Schafe friedlich grasen. Tobias Melle, der für seine musikalisch-visuellen Arbeiten mit dem Slogan "Da hören die Augen mit" wirbt, lässt auch kunstvoll eine Flasche Scotch durch das Dorf purzeln, in dem während des ersten Akts eine verzwickte Geschichte ihren Ausgang nimmt.
In Paris lief die erste Produktion von 1825 über 1000 Mal
Mit der Produktion der immer wieder einmal neu entdeckten Opéra comique "La dame blanche" von François-Adrien Boieldieu feiert die Kammeroper München ihr 20-jähriges Bestehen. Für lange Zeit war das Werk mit seinen süffigen Melodien zu düsteren Gemäuern, noch finstereren Intrigen, einem gut versteckten Schatz und einem Furcht verbreitenden Schlossgespenst sowie einer Liebesgeschichte mit einem verloren geglaubten Adelsspross ein beispielloser Erfolg. Die Uraufführungsinszenierung aus dem Jahr 1825 lief in Paris über 1000 mal und schon 1826 wurde "Die weiße Dame" in deutscher Sprache erstaufgeführt.

Regisseur Dominik Wilgenbus hatte 2016 für seine Inszenierung im Stadttheater Gießen eine eigene deutsche Fassung erarbeitet, die er anlässlich der diesjährigen Jubiläumsproduktion zusammen mit dem Musikalischen Leiter Aris Alexander Blettenberg gründlich überarbeitete. Sowohl die Texte als auch die Arrangements mussten den besonderen Umständen im Hubertussaal angepasst werden, wo die Kammeroper seit 2004 residiert.
Im Dorf dominieren Schottenkaros
Aus dem Dreiakter wurde ein mit 160 Minuten inklusive Pause noch immer stattlicher Zweiakter. Das Orchester schrumpfte auf eine kammermusikalische Besetzung plus Harfe und Horn. Beide blieben aus dramaturgischen Gründen, denn sie haben leitmotivische Funktionen und geben dem wunderbar transparenten Klang aus dem Graben hinter der Bühne ganz besonders intensive Farben. Der Chor entfällt zwar nicht vollständig, aber er wird aus den Solisten der späteren Akte beziehungsweise aus den Doppelbesetzungen gebildet.
Bei den Dorfbewohnern dominieren Schottenkaros (Kostüme: Uschi Haug) und wilde Bärte. Wilgenbus zeigt wenig Scheu vor gut abgehangenen Klischees.

Dem Grusel der Gothic Novel, den Librettist Eugène Scribe aus gleich mehreren Romanen von Walter Scott bezog, zieht er die Operette vor, zu deren prägenden Miterfindern Boieldieu mit seinen mehr als 40 Stücken heiteren Musiktheaters natürlich auch zählt.
Es gibt ihn wirklich: den Bösewicht der Herzen
Hier ist der bei einer Festivität aufgetauchte George Brown ein freches Kerlchen. Als der junge Offizier bei seiner Ankunft im Dorf von der geheimnisvollen Dame in Weiß droben in der Burg erfährt, will er abenteuerlustig ihr Alter wissen. 300 bis 400 Jahre, erzählen die Eingeborenen erschauernd, und George stellt fest: "Schade. Zu alt für mich." Luis Hernández-Luque ist ein charmanter junger Held mit grandios umfangreicher Stimme, der ganz oben gleichwohl der tenorale Schmelz des Liebenden fehlt.
Effektsicher und leicht schraubt sich Laura Braun in die Sopran-Höhen der Arien Annes und gibt ihr, wenn sie in Weiß über die Zinnen geistert, eine wohltemperierte Trauer über den drohenden Verlust des Anwesens.
Denn der bisherige Verwalter Gaveston lauert schon darauf, die Burg zu kaufen und selbst Burgherr zu werden. Bei den Dialogszenen zeigt Jakob Schad zwar Schauspielerei mit viel Luft nach oben, aber mit seinem kernigen wie geschmeidigen Bass wurde er vom Publikum am auch insgesamt gefeierten Premierenabend zum Bösewicht der Herzen.
Hubertussaal im Schloss Nymphenburg, weitere Aufführungen am 28., 29., 31. August, 1., 4., 5., 7., 8., 11., 12., 14., 21. September, 19.30 Uhr, sonntags 18 Uhr, Karten unter Telefon 45 20 56 121