Die Uraufführung von Elfriede Jelineks "Wut" in der Kammer 1

Im Dschungelcamp: Nicolas Stemann inszeniert Elfriede Jelineks Text „Wut“ an den Kammerspielen
von  Mathias Hejny
Elfriede Jelineks "Wut" in den Kammerspielen.
Elfriede Jelineks "Wut" in den Kammerspielen. © Thomas Aurin

Zum Schlussapplaus derer, die noch geblieben sind, gibt es zwei Publikae: Die einen, die ohnehin schon einen besseren Platz vorne in der Kammer 1 hatten, durften zwischendurch auf der Bühne Platz nehmen und waren zeitweilig veredelt damit, durch den Eisernen Vorhang von den Übrigen getrennt exklusiv bespaßt zu werden. Das Publikum mit sich selbst zu spiegeln ist keine neue Idee, hat aber, irgendwie zumindest, mit den bei dieser Gelegenheit verhandelten Inhalten zu tun, was an diesem Abend nicht selbstverständlich ist. Die einen sind auserwählt, die anderen bleiben zurück.

Dass diejenigen, die man im Dunkeln nicht sieht, deshalb keineswegs ganz furchtbar wütend werden, hat – abgesehen von den unausgesprochenen, aber grundsätzlich bestehenden Verabredungen zwischen Bühne und Saal– auch damit zu tun, dass Regisseur Nicolas Stemann bereits im Verlauf der ersten Hälfte der 200 Minuten mit allerlei ulkigem, aber beliebigem Trash und verschnarchtem Agitprop aus den Siebzigern jeden Bezug zur titelgebenden „Wut“ verblödelt hat.

Das totale Werk zur Wut

Dabei scheint es ihm auf dem ersten Blick wichtig, auch die Wut des Publikums zu stimulieren. Unter Bezug auf ein tumultuös abgebrochenes Konzert in Köln Anfang März, bei dem Mahan Esfahani die „Piano Phases“ von Steve Reich aufführte und Beschimpfungen wie „Aufhören!“ und „Kunstkacke!“ zu den freundlicheren gehörten, versucht Stemann vergebens, den gut erzogenen Münchner Theatergängern Unflätiges auf die Zunge zu legen. Fast neigt man dazu zu glauben, er beneide die im Januar 2015 von Islamisten erschossenen Pariser Satiriker klammheimlich um ihre Wichtigkeit für Attentäter. Aber so ein Terrorist ist ein scheues Reh und nicht immer sprengbereit, wenn man ihn bräuchte.

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Eine solche Opfer-Fantasie passt selbstverständlich nicht zum ausgebufften Schauspielregisseur Nicolas Stemann, für den auch emotionssatte Schreibanfälle wie jene, für die Elfriede Jelinek berüchtigt ist, nichts anderes als Gegenstände desinteressierten Kalküls sind. Die österreichische Literatur-Nobelpreisträgerin fühlte sich nach dem Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ getrieben, das totale Werk zum Thema „Wut“ zu liefern.

Alles hat mit allem zu tun

In mitunter wuchtig hingehauenen Sätzen formuliert sie die Wut sowohl der Opfer als auch der Täter. Unter Berücksichtigung historischer Bezüge wie den von Frankreich brutal geführten Algerien-Krieg erklärt sie die Demarkationslinie zwischen Tätern und Opfern für aufgehoben, lässt unterdrückte Frauen, Gläubige, Ungläubige, Wutbürger, Pegida-Mitläufer und AfD-Aktivisten zu Wort kommen, und für den rasenden Herakles sind auch noch ein paar Seiten übrig.

Nicolas Stemann beklagt in seiner gut gelaunten Anmoderation zur Uraufführung – wie oft lässt er sich selbst mitmachen – die Umfänge der Jelinekschen Texte, bei denen vollständig auf Rollen und Regieanweisungen verzichtet werde. Es verwundert, dass ihm das jetzt erst auffällt. Denn er gilt als Jelinek-Experte und „Wut“ ist sein achter Versuch an den „Textflächen“.

Das Angebot der Autorin an die Regisseurin, frei mit ihrem Material umzugehen, hat bei Stemann verheerende Wirkung: Er fühlt sich von jeder Verantwortung entbunden. Das macht seine Inszenierung und seine siebenköpfige Truppe künstlerisch wie politisch so wertvoll wie das RTL-Dschungelcamp.

Münchner Kammerspiele (Kammer 1), 19. April, 19.30 Uhr, 24. April, 19 Uhr, 8., 26. Mai, 18 Uhr, Telefon 23396600

 

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