Kritik

"Siegfried" in Bayreuth: Die sozial verwahrlosten Brüder

Bayreuther Festspiele: In "Siegfried" bekommt der komasaufende Titelheld im jungen Hagen einen Gefährten.
Walter Weidringer |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Traurige Gestalten: Alexandra Steiner (Waldvogel), Andreas Schager (Siegfried), Arnold Bezuyen (Mime) und Branko Buchberger (Junger Hagen)
Traurige Gestalten: Alexandra Steiner (Waldvogel), Andreas Schager (Siegfried), Arnold Bezuyen (Mime) und Branko Buchberger (Junger Hagen) © Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Der "Ring des Nibelungen" mit seinen Machtkämpfen, Geiselnahmen, Morden und Inzest ist kein Kindergeburtstag. Das heißt aber nicht, dass man nicht dennoch einen mitinszenieren könnte. "Happy Birthday" prangt als Girlande in Hundings früherer Wohnung, in der jetzt Mime und Siegfried hausen: Eine Art Puppenheim mit Kasperltheater für den Kleinen, der allerdings längst zum komasaufenden Rabauken herangewachsen ist. Kein Wunder, dass er nur widerwillig Pflegedienste am Ziehvater verrichtet, der seine Gebrechlichkeit listig übertreibt.

Arnold Bezuyen arrangiert als Mime im ersten Aufzug von Wagners "Siegfried" einen Kindergeburtstag für seinen schwierigen Ziehsohn.
Arnold Bezuyen arrangiert als Mime im ersten Aufzug von Wagners "Siegfried" einen Kindergeburtstag für seinen schwierigen Ziehsohn. © Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

 

Leider ist gerade dieser erste Akt "Siegfried" ein Tiefpunkt in Valentin Schwarz' Deutung: Wie Wotan fängt sich der Regisseur in eigner Fessel. Zunächst ist es eine gelungene Pointe, wenn Siegfried ein Laserschwert geschenkt bekommt und den Plastikramsch sofort zerschlägt: wissen wir doch längst, dass die Regie die alten Machtsymbole entsorgt.

 Teile der Story bleiben bei Schwarz auffällig unausgegoren

Doch dann bringt Wotan ein Päckchen mit, eine neue Krücke für Mime. Aus deren Schaft gleitet bei einer späteren Rangelei eine Klinge - und prompt sind wir doch zurück bei einem Schwert, zusätzlich zu Mimes Pistole, der aus der "Walküre" bekannten Stellvertreterin Nothungs. Die Knarre muss dann auch, weil zwar geschliffen wird, aber nicht geschmiedet, die aus dem Orchester kommenden Ambossschläge erklären: in Form einer Dauerballerei des betrunkenen Siegfried, die freilich ohne Nachladen unmöglich wäre.

Lesen Sie auch

Auch die Wissenswette ist in diesem Setting unmotiviert. Ein Schritt vor, zwei zurück: Dieser Teil der Story bleibt bei Schwarz auffällig unausgegoren. Und dann der Gesang! Andreas Schagers größtes Kapital sind seine schier unerschöpflichen Reserven. Zugleich sind sie sein schlimmster Fluch. Schamlos berauscht er sich als Siegfried an der eigenen Kraftmeierei, stemmt sich durch die Partie. Das mag das Haus in Jubelstimmung versetzen, lässt aber bis auf wenige Ausnahmen jegliche Nuancierung vermissen.

 

Auch Arnold Bezuyen hat mit dem Mime seine Mühe, weil er seinem Tenor kaum Feinheiten abzuringen versteht und deshalb vokale Grimassen schneidet, kräht und krakeelt. Und Tomasz Konieczny als Wanderer? Der singt nach seinem Bühnenunfall wieder, geradlinig und mit grell verzogenen Einheitsvokalen, wirkt dabei jedoch vorsichtig und dynamisch eingeschränkt.

Andreas Schlager (von links) als Siegfried, Igor Schwab als Grane und Daniela Köhler als Brünnhilde im dritten Akt von "Siegfried".
Andreas Schlager (von links) als Siegfried, Igor Schwab als Grane und Daniela Köhler als Brünnhilde im dritten Akt von "Siegfried". © picture alliance/dpa/Festspiele Bayreuth

Fast so, als wollte er mit begrenztem Volumen ausdrücken, was inszeniert ist: Schon beim Abgang im ersten Akt erleidet dieser alte Wotan einen Schwächeanfall - und spart auch in der Erda-Szene mit seinen Kräften: Okka von der Damerau, nun blinde Obdachlose mit dem Hort-Mädchen aus dem "Rheingold" als helfender Begleiterin, orgelt ihre Orakelworte, stöbert die Walhall-Lampe auf und lässt sie mitgehen.

Der Mittelakt fesselt

Der Mittelakt aber fesselt. Das Goldkind aus dem "Rheingold", der personifizierte Ring, ist nun, wie erwartet, zum jungen Hagen herangewachsen (Branko Buchberger in stummer Rolle). Ein Bruder Siegfrieds, der dann prompt und für eine Weile auch dessen "Brudi" wird. Aber wir greifen vor.

Hagen hockt trist an einem Krankenhausbett. Denn Fafner (Pflegegrad: 3 bis 4) konnte sich zwar Walhall als Feudalsitz leisten, doch Gesundheit gibt's noch nicht für Geld: Der alte Pate liegt im Sterben, und die Konkurrenz (Alberich, Wotan) kommt mit Blumen Besorgnis heucheln. Da gelingt Schwarz eine fesselnde Parallelführung zwischen Siegfried und dem auf schlimmere Weise sozial verwahrlosten Hagen: Dieser erkennt die Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden, findet ein Vorbild in Siegfried, bewundert, wie Siegfried Fafner dann halb ungewollt bis zum Infarkt treibt, worauf alle den Alten beinhart am Boden krepieren lassen.

Siegfried verletzt Mime schwer, dem die Hausbar die Zunge gelöst hat, und in einem unheimlichen Rollentausch drückt der rasch lernende Hagen dem verhassten, röchelnden Stiefvater des anderen gleichsam in einem solidarischen Akt ein Kissen aufs Gesicht. Cineasten denken dabei an Alfred Hitchcooks "Zwei Fremde im Zug".

Lesen Sie auch

Dass der Waldvogel eine wortkarge Krankenschwester ist und Siegfrieds Flöten-Misstöne seine ungeschickten Annäherungsversuche repräsentieren, sorgt für Heiterkeit. Die bricht gottlob nicht erneut aus, wenn Brünnhilde majestätisch (und vermutlich sediert) ins Geschehen zurückkehrt: Ohne Zauberschlaf müsste sie jetzt eine Generation älter sein als Siegfried, war jedoch beim Walküren-Lifting.

Tatsächlich ist Daniela Köhler in Klang und Erscheinung eine jüngere Brünnhilde als Iréne Theorin: Mit einem merklichen Schuss Hildegard Behrens im Timbre tönt sie verletzlicher - und wird sich hoffentlich nicht umgehend im hochdramatischen Fach verbrennen. Es sind ihre Bandagen, keine Brünne, aus denen sie geschält werden muss.

Siegfried verletzt den "Bro-Code"

Bis dahin hatte Siegfried in Hagen einen treuen Begleiter, mit dessen Hilfe er Wotan überwältigen und ihm die Pistole mit dem Schwert aus der Hand schlagen konnte. Doch dann verletzt Siegfried den "Bro-Code" und stellt die neue Frauengeschichte über ihre Männerfreundschaft: Hagen bleibt enttäuscht und wütend zurück, verliert sich im Hintergrund - mit einem funkelnden Schlagring aus Fafners Nachlass. Also doch auch ein Ring?

Die Menage a trois mit Brünnhildes treuem, eifersüchtigem Begleiter Grane (Igor Schwab) wird ausverhandelt. Dann können Siegfried und Brünnhilde ihr blechgepanzertes C-Dur-Jubelfinale schmettern. Grane holt schon mal den Wagen. Am bisher heißesten "Ring"-Tag erreicht das Festspielorchester unter Cornelius Meister auch musikalisch endlich passable Betriebstemperatur, obwohl immer noch allzu viel Stückwerk und unverbundene Extremwerte aus dem mystischen Abgrund herauftönen: Fortsetzung folgt.


Die "Götterdämmerung" am 5. August ab 16 Uhr als Stream auf BR Klassik

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.