"Die Sieben Irren" an den Kammerspielen: Sperrig, mit hintersinnigem Witz
München - Manchmal ist das Theater so nah dran am Puls der Zeit, dass die Herzschläge von Gegenwart und Bühnengeschehen (fast) gleichzeitig pochen. Ausgehend von dem Roman "Die sieben Irren" ihres Landsmanns Roberto Arlt haben der argentinische Regisseur Alejandro Tantanian und seine Co-Autorin, Bühnen- und Kostümbildnerin Oria Puppo mit Ensemblemitgliedern der Kammerspiele ein Stück entwickelt, das sich mit faschistischen Geheimbünden befasst.
Am letzten Mittwoch nahmen nun deutsche Sicherheitskräfte während einer Großrazzia 23 mutmaßliche "Reichsbürger" fest, die unter dem Verdacht stehen, einen Staatsstreich geplant zu haben. Das Timing der Theaterpremiere: perfekt.
"Im Sand wächst nur die Wüste"
Was den Menschen zum Komplott hinzieht - dafür liefert die Inszenierung prompt einige Motive und reflektiert das Zeitgefühl der Umstürzler: "Die Vergangenheit und die Zukunft existieren nicht mehr. Die Gegenwart ist Sand, und im Sand wächst nichts. Nur die Wüste. Wir haben das Paradies verloren, und weil wir diesen Verlust vergessen haben, verstehen wir den Ursprung unserer Trauer nicht", fabuliert Jochen Noch als Gottfried und klagt, dass es "den Menschen an Göttern und Glauben fehlt".
Sieben schlecht gelaunte Verschwörer
Gottfried gehört zu einer Truppe von Verschwörern, die das Publikum in der Therese-Giehse-Halle zu einer Informationsveranstaltung einladen, mit dem Ziel, neue Mitglieder zu rekrutieren. Dass sie dabei schlecht gelaunt wirken, mutet etwas seltsam an, geht es doch eigentlich darum, die Zuschauer auf ihre Seite zu ziehen. Aber sie sind nun mal schlichtweg sauer, fühlen sich erniedrigt und gedemütigt, vom Staat, von der Gesellschaft - genauer wird das nicht definiert. Als Arbeitsloser im Strickpulli gibt Thomas Hauser den genervten Rädelsführer und steigert sich in das Vorlesen eines Manifests hinein.
Angenehme Distanz zum Geschehen
Annette Paulmann als bebrillte Bibliothekarin wirkt da gefasster, wenngleich ebenso übellaunig. So ganz identifiziert auch sie sich nicht mit ihrer Rolle, spielt sie ebenfalls mit hintergründigem Witz. Das Publikum sinister verführen, das wollen Tantanian und Puppo offenbar nicht, sondern erzeugen immer wieder angenehme Distanz zum Geschehen. Die Publikumsansprache hält sich in Grenzen, und der, den sie als potentielles neues Mitglied auf die Bühne holen, ist schon recht eindeutig einer der Ihren.
Durch die Hölle, auf den OP-Tisch: Indoktrination hat begonnen
Bernardo Arias Porras spielt den Mann aus dem Volk, der auf der Bühne gleich mal durch eine Klappe in einen Abgrund steigt, aus dem es höllisch dampft und leuchtet. Hinten taucht er wieder auf einem Operationstisch auf, die Indoktrination hat offenbar begonnen.
Erwin Aljukic spiegelt das Äußere des Neuzugangs mit Maske und Perücke und fragt ihn als sein Doppelgänger dämonisch-eindringlich aus.
Dämonische Doppelungen
Solche Doppelungen durchziehen die gesamte Inszenierung; das Individuelle löst sich im Kollektiv auf und auch die Zeiten geraten in Fluss. Ein paar Szenen aus Arlts Roman spielt das Team vor, dafür rollen sie Scheinwerfer unter burlesker Hollywood-Musik herein und betonen damit das Spiel im Spiel, das ebenfalls nicht zur Identifikation einlädt, weil es übermäßig theatralisch ist. Während sie miteinander agieren, läuft hinter ihnen ein Video einer Aufzeichnung derselben Szenen ab. Manchmal hinken sie dem aufgezeichneten Spiel nach, manchmal überholen sie es, und manchmal wirkt es fast synchron.
Aus der Geschichte lernen, oder nicht?
Es ist also alles schon mal dagewesen, und es wird alles irgendwann wieder so kommen. Von Fortschritt kann keine Rede sein: Auf einer Treppe geht Johanna Eiworth in Zeitlupe Schritte hoch und rückwärts wieder runter.
Romanvorlage von 1929
Arlts Roman von 1929 handelt von einem Einzelgänger, Remo Erdosain, der in Buenos Aires auf eine Gruppe trifft, die den Umsturz der Verhältnisse plant. Die Revolution soll mit dem Betrieb von Bordellen finanziert werden, ein Zuhälter gehört zur Gruppe, die von einem "Astrologen" angeführt wird. Arlts Roman, der zeitgleich mit Döblins "Berlin Alexanderplatz" entstand, brachte die durch verschiedene extremistische Gruppen, zwischen sozialistischer Gesinnung und kapitalistischer Glücksjagd aufgeheizte Stimmung im Buenos Aires der 1920er auf den Punkt.
Deutliche Botschaft: Verlorenheit und Überforderung gehören dazu
Wer den Roman nicht gelesen hat, ist bei den szenischen Umsetzungen der Verschwörer-Truppe leider etwas verloren. Auch eignet sich Arlts dichte, poetische Sprache nicht unbedingt als Text für die Bühne. Aber vielleicht gehört ja die Überforderung der Zuhörerschaft, das dabei entstehende Gefühl der Verlorenheit zum Konzept. Klarer verständlich sind die Schicksalsberichte der Gruppenmitglieder, mit denen sie ihre Motive erklären. Christian Löber erzählt etwa als "Gerhart Biberkopf" eindringlich vom Mord an seinem Kind, von Rachegefühlen, die er an Obdachlosen ausließ. Aber: "Ich habe gelernt, die Gewalt in mir zu kanalisieren. Jetzt habe ich ein Ziel: Die Nacht, in der ich lebe, soll alle überkommen."
Können wir was verändern in der Welt?
Annette Paulmann verkündet den Glauben, dass die Fiktion in der Realität etwas verändern kann, was ja eigentlich auch eine feine Utopie für das Theater ist. Aber auch das wird so uneigentlich gesagt, dass man daran wohl nicht glauben sollte. Das Aufgehen im Kollektiv ist an diesem Abend, der bei aller Sperrigkeit mit Witz gespielt und multimedial-abwechslungsreich inszeniert ist, nicht erwünscht und erweist sich als Illusion. Wer sich auf die Geheimbündler einlässt, landet am Ende vereinzelt in einer großen, sich aufblähenden Blase. Das Versprechen einer heimeligen Gemeinschaft: nur heiße Luft.
Nächste Termine: 14., 15., 21. und 22. Dezember, jeweils 19.30 Uhr, Karten unter Telefon 089 233 966 00.