Wenn es kafkaesk wird, Kafka zu spielen

In diesem Jahr jährt sich der Todestag Franz Kafkas zum 100. Mal. Aus diesem Anlass inszeniert Karin Henkel das Romanfragment "Das Schloss" über K., der eine Aufgabe in jenem ominösen Schloss sucht, über das Warten auf eine Antwort aber nicht hinauskommt. Den Protagonisten K. spielt Carolin Conrad als eine von vielen. Im Interview erzählt sie von ihrem Hadern mit dem Text, von seiner universellen Gültigkeit - und wie die turbulente Probenzeit auf gewisse Weise das ganze Team in einen kafkaesken Zustand gebracht hat.
AZ: Frau Conrad, die Probenzeit war geprägt von vielen Krankheitsfällen im Ensemble, die Premiere musste um eine Woche verschoben werden. Wie sieht es jetzt aus, vier Tage vor der Premiere?
CAROLIN CONRAD: Früher hat man in den Endproben das Stück durchgespielt und die verschiedenen Gewerke konnten die Abläufe einüben. Das kenne ich eigentlich gar nicht mehr, dass eine Produktion eine Woche vor der Premiere fertig ist. Da wird immer noch geändert und gefeilt, Durchläufe gibt es erst viel später. Wir sind also noch mitten drin.
Wie waren Ihre Begegnungen mit Kafka-Texten vor dieser Produktion?
Tatsächlich kann ich mich nicht erinnern, Kafka in der Schule gelesen zu haben. Im Theater habe ich immer wieder Adaptionen zum Beispiel vom "Prozess" gesehen. Als ich gehört habe, dass wir "Das Schloss" machen, habe ich ehrlich gesagt nicht gleich gedacht: "Das wird saftig!" Ich hatte eher Respekt und fand es spontan nicht so sexy. Es passiert nicht viel und hat eine gewisse Drögheit.
Sie fanden es wenig lustvoll?
Als Schauspielerin hat man in diesem Gefüge des Stillstands eher eine Funktion, aber keine Rolle, die man ausgestalten kann. Da muss man erstmal gemeinsam im Ensemble rausfinden, wie man seinen Schauspielerdrang einbringen kann. Ich habe das Gefühl, dass das Zuschauen da mehr Freude macht als das Spielen.
Können Sie dem Roman inhaltlich etwas abgewinnen?
Anders als beispielsweise im "Prozess" geht es hier nicht um ein System, das den einzelnen zermahlt, sondern grundsätzlicher um die Suche nach einem Lebenssinn. K. will wissen, was seine Aufgabe ist und warum er hier ist. Immer wieder wird er aber an jemanden verwiesen, der nicht da ist. Das ist keine individuelle, anekdotische Geschichte, sondern etwas Generelles. Kafka hat auch mal geschrieben, es wäre ihm nichts fremder als individuelle Schicksale zu beschreiben. Ihm geht es um das Allgemeine, die Sinnsuche aller Menschen. Darum gibt es bei uns auch keine festen Rollenzuschreibungen, wir spielen alle den K.

Es geht also gar nicht um die Figur an sich?
Kafka zeichnet diese Figur nicht scharf, man erfährt im Grunde sehr wenig über ihn. Diese Unschärfe und die merkwürdige Welt, in die er gerät, erzählen wir über die Figurenwechsel. Immer wenn man meint, man weiß, wer er ist, verschwindet er wieder, sieht anders aus. Am schönsten wäre es, wir hätten alle das gleiche Gesicht. Das Ganze ist so etwas wie eine Versuchsanordnung des Menschseins an sich: Wie gehen wir damit um, dass uns keiner sagen kann, warum wir hier sind?
Um diese Leere zu füllen, haben die Menschen die Religion erfunden.
Ja! Es kam auch mal die Idee auf, ob dieser Klamm, den K. immer sucht, vielleicht Gott ist. Er ist der einzige, der ihm vielleicht eine Antwort geben könnte, aber er ist nie da. Das ist ja auch zum Verzweifeln. Dieses Einkreisen eines Lebenssinns ist auf der einen Seite natürlich beliebig, auf der anderen Seite aber auch das, was uns alle beschäftigt, der kleinste gemeinsame Nenner. Ob das nun der Kapitalismus ist oder Gott: um irgendwas muss es einfach gehen. Und K. bleibt in dieser Denkschleife hängen.
Aber es gibt bei Kafka auch immer den Punkt, wo das Streben der Figuren in ihrer Vergeblichkeit etwas Komisches und in seiner Universalität auch Tröstliches bekommt. Weil wir eben alle gleich ahnungslos sind.
Bei anderen Stoffen, zum Beispiel bei Tschechow, frage ich mich manchmal, inwieweit das noch meine Geschichte ist. Hier spielt das gar keine Rolle, es ist völlig egal, dass der Roman hundert Jahre alt ist. Er ist zeitlos. Für Regisseure ist Kafka vielleicht interessant, weil sich da bühnenwirksame Welten mit tollen Mechanismen erschaffen lassen. Aber die schauspielerische Umsetzung ist schwierig, weil die Texte so emotionslos sind. In Sätze wie "Der kommt heute nicht" oder "Ich warte trotzdem" kann man nicht viel reinlegen. Da muss ich als Schauspielerin wegkommen von der Emotionalität, die ich sonst in Rollen suche.
Gibt es auch Momente der Leichtigkeit?
Ich habe das Gefühl, dass K. das Warten irgendwann als seine Aufgabe annimmt. Und dann bekommt es eine ganz eigene Schönheit. Die Erkenntnis, dass das Leben eben mehr nicht ist, wirkt befreiend. Es ist auch eine Erleichterung, nichts anderes tun zu müssen, niemand anderes sein zu müssen.

Ein bisschen wie Sisyphos, der immer wieder seinen Stein den Berg hochrollen muss und den Albert Camus als glücklichen Menschen beschreibt.
Genau. Man hetzt im Leben von einem Moment zum nächsten. Wenn man ein Ziel erreicht hat, wenn man als Schauspielerin zum Beispiel in Hollywood ist, denkt man, jetzt muss doch alles wirklich Sinn ergeben. Doch schon kommt die nächste Aufgabe, die bewältigt werden will. Sobald wir etwas erleben, liegt es schon wieder hinter uns. Selbst beim Kinderkriegen muss man sich fragen, ob das jetzt wirklich der eine Sinn ist - ganz abgesehen davon, dass es für die Welt wahrscheinlich gar nicht sinnvoll ist, weil wir eh zu viele sind. Kinder können einen jedenfalls nicht retten vor der Frage: Wer bin ich?
Was überwiegt an diesem Abend: das Schwermütige oder das Lustige?
Die Akzeptanz des Vergeblichen kann schon lustig sein, glaube ich. Dieses: "Du kannst schon bleiben, wenn du magst. Aber brauchen tun wir dich nicht. Du bist egal." Und vielleicht stellt sich so etwas ein wie eine gütigere Draufsicht auf das Leben und auf sich selbst. Wenn ich auf mich schaue: Ein Bruder von mir ist gestorben. Das ist schrecklich. Aber das Leben geht einfach weiter. Der Moment ist verankert in mir, aber er rutscht nach hinten. Das Leben hält nicht an, es macht keine Pause.
Im Gegenteil: Draußen ist alles wie immer, die Welt merkt nichts vom eigenen Schmerz.

Man muss den nächsten Schritt machen und den übernächsten. Und irgendwie ist das auch erleichternd. Trotzdem ist die Sehnsucht, nicht egal zu sein, immer da. In meinem Beruf bin ich ständig damit beschäftigt, etwas zu erschaffen, was im nächsten Moment komplett verschwindet. Ich kann diesen Moment, in dem etwas gelingt, nicht festhalten.
Irgendwie hat der Theaterbetrieb an sich etwas von einem Kafka-Roman.
Tatsächlich sind wir während der Proben immer wieder an den Punkt gekommen, an dem wir gemerkt haben, wie wenig flexibel wir eigentlich sind, wie sehr wir auf die Strukturen dieses Betriebs angewiesen sind. Durch die ganzen Krankheiten und Verzögerungen haben wir uns viel im Kreis gedreht. Wir konnten keinen Einfluss nehmen, waren ein kleines Rädchen in einem riesigen Apparat. Ein bisschen kafkaesk war das schon. Alles dreht sich und steht trotzdem still. "Mein Leben ist ein stehendes Marschieren", hat Kafka mal gesagt.
Premiere am 2. Februar, 19.30 Uhr, ausverkauft, wieder am 15. und 16. Februar und am 5., 10. und 17. März im Residenztheater