Die Premiere von "Onkel Wanja" in den Kammerspielen
Der Sog der Lethargie: Karin Henkel und Johan Simons inszenieren Tschechows „Onkel Wanja“ an den Kammerspielen.
Wer seinen Tschechow so liebt, wie Hans Lietzau, der 1987 „Onkel Wanja“ an den Kammerspielen inszenierte, den ergreift hier schnell ein Fluchtreflex. Damals breiteten Claus Eberth als Wanja, Cornelia Froboess als Sonja, Helmut Griem als Astrow und Rolf Boysen als Professor ihr Unglück in Ezio Toffoluttis lichten Räumen aus.
Jetzt sind die Figuren eingesperrt in einen engen schwarzen Guckkasten, der an Kasperltheater denken lässt. Das ist die minimalistische Grundidee der Regisseurin Karin Henkel, die drei Wochen vor der Premiere wegen Grippe ausfiel. Intendant Johan Simons führte die Inszenierung zu Ende. Also schwer zu sagen, was auf wessen Konto geht.
Das überaus lachlustige Premierenpublikum jubelte nach zwei Stunden frenetisch. Das Konzept der Leitung, zum 100. Jubiläum der Kammerspiele die Stücke legendärer Aufführungen neu zu inszenieren, evoziert natürlich Erinnerungen und Vergleiche. Bisher wirkten die Gegen-Entwürfe eher wie nicht geglückte Demontageversuche
Figuren quetschen sich in Muriel Gerstners Schaufenster-Bühne
Danach sieht’s zunächst auch hier aus: Auf Muriel Gerstners flache Schaufenster-Bühne in 50 Shades of Black quetschen sich die Figuren nebeneinander hinein, oft bleiben sie da als Tableaux stehen. Sie sprechen bedächtig, künstlich ausgestellt – hier hat kein Realismus Platz. Auch kein Requisit, außer Wanjas Revolver.
Die heutige Volkskrankheit Depression und die zu Tschechows Zeiten herrschende Lethargie finden Ausdruck in enervierender Langsamkeit. Langeweile ist das einzige Thema der Reichen ohne Lebensaufgabe, und Langeweile entwickelt hier auch fast ohne Aktion einen spannenden Sog.
Das Kasperltheater ist ein tragisches. Benny Claessens, eigentlich zu jung für die Rolle, lässt seine Leibesfülle auf die Rampe plumpsen – ein trauriger Kasper Wanja, der seine Verzweiflung übers vergeudete Leben erstaunlich gefasst äußert, mit großen, naiven Augen. Gretel ist Sonja, die sich immer wieder aufrappelt zum Weitermachen: Anna Drexler, 23-jährige Absolventin der Falckenberg-Schule, spielt das hässliche, bebrillte Mauerblümchen glänzend und anrührend mit lakonischer Komik.
Leise schleicht sich das Krokodil an: Die schöne Jelena von Wiebke Puls im roten Tüll-Ballkleid tastet sich an der Wand entlang in die fremde Gesellschaft, deren Männer sich ihr willig zum Fraß anbieten. Worauf sie nur schnippisch und arrogant reagiert.
Ihren alten Gatten, den egomanischen Professor, für den Wanja und Sonja auf dem Landgut schuften, macht Stephan Bissmeier mit Parkinson-Trippelschrittchen und gedrechselten Handbewegungen zur wunderbaren, sehr dezenten Kabarettnummer.
Eine Leerstelle bleibt der Astrow von Maximilian Simonischek: Ein permanent zugedröhnter, vor sich hin tänzelnder Freak mit speckigem Haar, der besoffen zum Schlafen buchstäblich aus dem Schaufenster-Rahmen fällt. Was diesen engagierten Arzt und Öko-Visionär – ein Alter Ego Tschechows und die intelligenteste Stückfigur – so anziehend für Frauen macht, versteht man hier beim besten Willen nicht.
Das psychologiefreie Typenpanoptikum ergänzen Hans Kremer als strenge Großmutter mit Dutt und Stefan Merkis diskreter Pausenclown Telegin. Der bestellt russisch Tee und Wodka bei Polina Lapkovskaja (bekannt als Pollyester), die vor dem Guckkasten im Glitzerfummel mit dünnem Stimmchen endlose melancholische Lieder singt – ob russisch oder in ihrer Muttersprache Ukrainisch, mögen Slawisten entscheiden.
Und warum auf dem Plakat der Titel in fraktur-ähnlicher, Nazi-Assoziationen weckender Schrift gedruckt ist, wüsste man auch gern.
Kammerspiele, 10., 20., 23., 28. April, 20 Uhr, Tel.: 233 966 00