Die "Prawda" segnet den Inzest
Schon die ersten Takte ein Versprechen: Kirill Petrenko betonte das kurze, immer heftigere Anschwellen der Streicher. Und der Sturm am Anfang der „Walküre” rauschte gewaltiger als je zuvor. Und so konzentriert, sorgfältig vorbereitet und genau ausgeführt setzte sich der zweite Abend von Wagners „Ring des Nibelungen” fort bis hin zum farbig gespielten Feuerzauber.
Die Farben der Musik ertrinken trotz des versenkten Orchesters nicht in einem Mischklang. Das Festspielorchester spielt wach, als handele es sich um Kammermusik. Nie hebt dieser Dirigent demonstrativ den Zeigefinger, um etwas vorzuführen. Großartig gelingen die Steigerungen an den Aktschlüssen. Und die Verdüsterung der Musik vor Wotans Monolog im zweiten Akt war zum Erschaudern.
Klarer, natürlicher und emotionaler und ohne falsche Bindemittel hat schon lange niemand mehr Wagner dirigiert. Auch die heikle Akustik ist für Petrenko kein Problem. Vermutlich braucht der heimliche Bayreuther Generalmusikdirektor Christian Thielemann nun einen Schnaps.
Revolverheld mit Schwert
Gesungen wird auch besser als im alten „Ring”. Der strahlende Johan Botha (Siegmund) gestaltet zwar etwas altmodisch und gönnt sich ein lang gehaltenes „Wälsungenblut”. Aber so viel Oper darf auch mal im Musikdrama sein. Das immer etwas steife Singen von Franz-Josef Selig passt beim Hunding, der hier als wortkarger Wildwest-Schurke mit Zylinder auftrat. Anja Kampes jugendlich-dramatische Sieglinde kam bereits im Münchner „Ring” dem Ideal nahe, und die Figur ergriff auch hier.
Catherine Foster wurde nach dem zweiten Akt für ihre Brünnhilde ausgebuht: eine Unverschämtheit nach einem sauber gesungenen Hojotoho und einer sehr lyrischen Todesverkündigung. Wagner hat da nun einmal Piano vorgeschrieben. Im dritten Akt wirkte die Sängerin leicht verunsichert. Sie setzt ihre eher kleine Stimme intelligent ein und ist eine Klasse Bayreuth-tauglicher als Linda Watson im vorigen „Ring”.
Wolfgang Koch sprang seiner Kollegin vor dem Vorhang ritterlich bei. Seinem Wotan fehlt etwas das bassige Fundament, dafür aber gelangen ihm heikle Stellen (Sprechgesang und Monolog) ausgezeichnet. Auch beim Feuerzauber blieben ebenso wenig Wünsche offen wie bei Claudia Mahnkes wiederum exemplarisch wortverständlicher Fricka.
Dieser „Ring” wird, so scheint es, vor allem ein musikalisches Ereignis. Frank Castorfs Inszenierung sprang von der Gegenwart des „Rheingold”-Roadmovies um 100 Jahre zurück. Der erste Aufzug begab sich auf einem hölzernen Ölbohrturm in Texas und funktionierte als Western nicht schlecht. Seit Quentin Tarantino ist der geneigte Zuschauer auch bereit, ein Schwert in der Welt der Revolverhelden zu akzeptieren.
Castorf liefert immerhin unterhaltsamen Schmarrn
In einer Video-Projektion segnete Lenin via „Prawda” den Liebesbund zwischen Siegmund und Sieglinde ab. Dann sprang die Handlung mit leicht veränderter Bohrturmtechnik ins seinerzeit russische Erdölfördergebiet Aserbeidschan. Wotans anfänglicher Patriarchen-Bart war länger, und irgendwie passte sein von einer reaktionären persischen Prinzessin namens Fricka zerstörter Traum vom „Neuen Menschen” in die Ära der proletarischen Revolution.
Zum Walkürenritt versuchte eine Gruppe Anarchisten den Bohrturm zu besetzen, doch sie wurden von Konterrevolutionären oder Bolschewiken zurückgeschlagen. Dem schloss sich eine bürgerlich-dekadente Party der Töchter Wotans an, ehe der Akt wie üblich mit etwas Pyrotechnik zu Ende ging.
Im Finale des ersten Aufzugs und am Anfang des zweiten störte die Regie den Wagnerkonsum durch Filme mit echtem und nachgestelltem Sowjetpathos.
Castorfs Personenführung war von jeder Repertoirevorstellung zwischen Südamerika und Moskau ununterscheidbar, und bartlos sah Wolfgang Koch mit Speer, schwarzem Mantel und verschwitzem Unterhemd aus wie der Wotan aus dem Stadttheater nebenan.
Alexandar Denics gewaltiges Bühnenbild haut einen allerdings um: Der Turm, die riesige Ölpumpe und die ganzen Details vom Truthahn bis zu den Fässern haben eine eigene Kraft. Und so bleibt die Inszenierung vorläufig immerhin ein unterhaltsamer Schmarrn.