Die "Odyssee", inszeniert von Simon Solberg - die AZ-Kritik
Simon Solberg schenkt uns eine fantastische Inszenierung der "Odyssee", körperlich, stark, intellektuell - und mit viel Respekt vor Homer
Was fürchten Bildungsbürger am meisten? Klassik-Zertrümmerung! Simon Solberg (36) hat am Volkstheater bereits die „Moses“-Geschichte zu einem Stilmisch-Musical verwandelt. Und jetzt: „Die Odyssee“!? Es ist ein großer Wurf geworden, der alles ausspielt, was Theater kann, wenn es kluge Ideen entwickelt, auf-, aber nie überdreht und Schauspieler hat, die zu allem bereit sind und alles können.
Der Krieger stellt die Sinnfrage, Penelope meldet sich per Skype
So war man knappe anderthalb Stunden in einem Akrobatik-, Licht- und Bühnenrausch, der bei allen Effekten noch die Kraft hatte, aufwühlende Inhalte zu transportieren. Und der homerische Text? Der wird hier fantastischerweise ernst genommen – in Form der schlanken, aber sprachmächtigen Übersetzung des frühen 19. Jahrhunderts von Johann Heinrich Voß, auch wenn kleine, aber niemals vergagte Flapsigkeiten eingebaut sind.
Auf die reagiert das jüngere Publikum nur kurz mit Heiterkeitsversuchen, bis alle gemerkt haben, dass man von Simon Solberg zwar wild unterhalten wird, oft auch Amüsantes aufblitzt, aber es wenig zu Lachen gibt – in dieser Geschichte einer grausam-lebensgefährlichen, langen Heimfahrt nach zehn Jahren Krieg. Am Ende seiner Heldenerzählung sagt Odysseus: „Ich tat dies alles!“ Aber es spricht kein strahlender, wenn auch erschöpfter Held, sondern ein gebrochener Krieger, der sich dabei die Sinnfrage stellt: „Was hast du wofür getan?“
Bei Homer weint Odysseus auch und hadert, aber er kennt noch kein Schuldgefühl. Und die „Heimkehr“, ein Grundmotiv und Ziel der „Odyssee“ trotz Unterbrechungen mit „Sex and Crime“-Geschichten, endet bei Solberg im Nihilismus. In einer Art posttraumatischen Störung wird Odysseus nie mehr ins „normale“ Zivilleben zurückkehren können. Solberg stellt dies dar, indem die Dauerorgie der Freier in Odysseus’ Haus unser eigener moderner Konsumrausch ist, der von Kriegsgeschichten nicht gestört werden will. Das letzte Befreiungsmassaker, das Odysseus bei Homer an den Freiern anrichtet, wird hier nur noch durchs Mikrofon erzählt, während Odysseus – unfähig zu weiterer Gewalt – umhergeschubst wird. Und seine Penelope? Die hatte sich zwischendurch verzweifelt per Skype gemeldet, aus dem heimatlichen Kriegsgebiet, unter hartem Beschuss, in Lebensgefahr live projiziert auf eine Leinwand auf der Bühne (Markus Pötter). Hier herrscht Schwarz-Weiß-Ästhetik, Eisenstangen sind mal Schiffsmast, Ruder, Leuchtschwerter. Sie sind auch grell-helle Leuchtleisten die zusammen mit Nebel und Spotlights die Bühne zu einer Pop-Bühne machen, ohne dass eine Show abgezogen würde. Weiß-transparente Plastiktütenbahnen sind Meeresmüllassoziationen, Bettler- oder je nach dem auch mal Designer-Kleidung (wie von der Nymphe Kirke).
Das überaus Gelungene an dieser „Odysee“-Inszenierung ist, dass alle aktualisierenden Aspekte – wie Krieg, Flüchtlinge – ungezwungen eingearbeitet sind und sich klar aus der Geschichte, wie sie hier erzählt wird, ergeben. Selbst wenn Achill – die griechische Kampfmaschine vor Troja – Attribute eines IS-Kämpfers hat, ist das hier nur ein Assoziations-Aspekt. Simon Solberg aktualisiert und psychologisiert den Mythos, der so zu unserer eigenen Zeitgeschichte wird.
Camus, Shakespeare, Epiktet oder Glyptothek – lässig eingeflochten
Bequem zurücklehnen kann sich der Antikenfreund nicht. Aber er bekommt sogar Zusatz-Futter: Die Ägineten aus der Glyptothek tauchen auf, Camus darf was zum „Mythos des Sisyphs“ sagen, Epiktet, Platon und William Shakespeare werden zitiert, und die Diskussion um den „gerechten Krieg“ wird geführt, wie sie schon Thukydides 400 vor Jesus Christus dargestellt hat: Darf man anderen Freiheit aufzwingen und dabei ihre Sicherheit zerstören? Und säht man mit alledem nicht noch mehr Hass und Flüchtlingsströme? Links und rechts der Bühne sind Leinwände, über die Bilder der Golfkriege, des Afghanistaneinsatzes, des Schah- und Ghaddafi-Sturzes laufen. Aber auch das drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern bleibt denkanstoßender Nebenkriegsschauplatz.
Es ist die große Kunst des auf fünf verdichteten Schauspiel-Ensembles (Sebastian Wendelin, Jean-Luc Bubert, Jakob Gessner, Moritz Kienemann, Luise Kinner) bei alledem die Konzentration des Zuschauers zu bannen – mit Trapez-Akrobatik, Wildem und klarer Artikulation, die dem intensiven, auch klassischen Text seine Wucht, Würde und zeitlose Verständlichkeit lässt. Wenn Theater eine derart packende „moralische Anstalt“ ist, dann lassen wir uns gerne gefangen nehmen. Adrian Prechtel
Volkstheater, wieder 29.1., sowie 4. und 14.2., 1. und 2.3., jeweils 19.30 Uhr, % 52 34 655
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