Kritik

"Die Nacht kurz vor den Wäldern": Schauspiel mit Bürgerbeteiligung

Residenztheater: Der Monolog "Die Nacht kurz vor den Wäldern" von Bernard-Marie Koltès als Stadtrundgang.
Mathias Hejny |
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Michael Wächter in der Maximilianstraße.
Michael Wächter in der Maximilianstraße. © Foto: Alvise Predieri

Für ein Geländespiel war das Wetter am Premierenabend ein Träumchen. 24 Grad vorsommerliche Lufttemperatur und blauer Himmel über der Stadt. Aber als Lichtstimmung für den Monolog, mit dem Bernard-Marie Koltès 1977 seinen Durchbruch als Dramatiker erlebte, ist prima Klima denkbar ungeeignet.

"Die Nacht kurz vor den Wäldern" ist kalt und regnerisch. Der Stadtrundgang beginnt im Foyer des Marstalls, führt vorbei an der eng besetzten Außengastronomie eines Restaurants der gehobenen Mittelklasse auf die Maximilianstraße.

Wenn das der Autor wüsste! Es mag auch in einem Milieu, wo ein Handtäschchen oder eine Armbanduhr fünfstellige Euro-Beträge kosten, schmutzige Ränder geben, aber die Schläger und Strichjungen, von denen Koltès erzählt, holte man sich als Münchner Modezar, zum Beispiel, auf dem Kiez in Bahnhofsnähe.

Michael Wächter als beunruhigend authentischer Streuner

Dorthin kommt man am besten mit der Tram und bei der Fahrt wird spürbar, wie dennoch die Realität die dramatische Fiktion berührt. Der Mann mit der Bierflasche in der Hand brabbelt etwas von einem "internationalen Syndikat zum Schutz der Muttersöhnchen", und Michael Wächter gibt den in intensives Selbstgespräch vertieften Streuner beunruhigend authentisch.

Wer nicht bemerkt, dass zu diesem Einsamen ein halbes Dutzend Leute mit Kopfhörern gehört, sieht eine der traurigen Gestalten, wie sie in den Städten immer häufiger anzutreffen sind. Gegen Ende pöbelte sich ein Münchner Kampfradler in neonfarbener Rüstung über dunkelblauem Businessanzug durch die Gruppe auf der schmalen Mariannenbrücke.

Wenn das Leben auf die Kunst zugreift

Er war nicht Teil der Inszenierung, sondern ein zufälliger Zugriff des richtigen Lebens auf die Kunst. Michael Wächter hat sich zu diesem Zeitpunkt abgesetzt und steht hüfthoch in der Isar, die hier die Seine doubelt.

Er wird sich nicht ertränken, aber bald unter den Bäumen am Ufer verschwinden und unter den Kopfhörern, aus denen ohne Punkt, aber mit vielen Kommata geredet wurde, wird es plötzlich still. Als Michael Wächter und sein Regisseur Robin Ormond zum ersten Mal mit dem Koltès-Stück umgingen, hatte der Weg an den Rhein geführt, denn die Produktion kommt ursprünglich aus Basel, wo beide schon bei Andreas Beck engagiert waren.

Es ist die Ansprache von einem, der in der Großstadt einen Platz zum Schlafen sucht, aber zumindest jemanden, der eine Weile lang zuhört. Er erinnert sich an die Zeit, als er "noch in die Arbeit ging", erzählt von Männern, die ihn faszinieren, ihn aber verprügeln und ausrauben, über Frauen, die er so schön findet und die ihn verraten haben.

Seine sexuelle Orientierung bleibt so schwer durchschaubar wie der ganze Kerl. Eindeutig ist vor allem sein Plan, alle zu rächen, die, wie er selbst, zu schwach sind für all die "Arschlöcher". Während er wehleidig-aggressiv den "Saustall" beschreibt, wird der Zeitgenosse der heutigen "Querdenker" erkennbar, was den 45 Jahre alten Text, selbst wenn er auf der Praterinsel von der Abendsonne beschienen wird, politisch auflädt.


Marstall und Stadtraum, wieder am 24., 30. Mai, 9., 17., 23. Juni, 19 Uhr, Telefon 089/21851940.

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