Interview

"Die Möglichkeit des Bösen" in der Therese-Giehse-Halle

Marie Schleef adaptiert Shirley Jacksons Geschichte "Die Möglichkeit des Bösen" in der Therese-Giehse-Halle.
von  Michael Stadler
Die künstliche Dorfwelt in "Die Möglichkeit des Bösen".
Die künstliche Dorfwelt in "Die Möglichkeit des Bösen". © Gabriele Neeb

Eigentlich wirkt Miss Strangeworth gar nicht so strange. Wenn sie nicht die Rosen vor ihrem Haus in der Pleasant Street pflegt, geht die 71-jährige Dame in ihrem Dorf einkaufen und plaudert mit den anderen Einwohnern, die sie sehr gut kennt. So gut, dass es für sie ein leichtes Spiel ist, in anonymen Briefen Gerüchte zu verbreiten und damit das Dorf insgeheim zu terrorisieren. Marie Schleef inszeniert Shirley Jacksons Kurzgeschichte "Die Möglichkeit des Bösen" in der Therese-Giehse-Halle.

AZ-Interview mit Regisseurin Marie Schleef.
AZ-Interview mit Regisseurin Marie Schleef. © Hendrik Lietma

AZ: Frau Schleef, kann man den Duft von Rosen auf der Bühne gut erzeugen?

MARIE SCHLEEF: Erstaunlicherweise ja! Es gibt auf der Bühne Rosen, die das Publikum vermutlich auch riechen kann.

Für was stehen die Rosen eigentlich? Für Miss Strangeworth selbst?

Es gibt einerseits die Lesart, dass Miss Strangeworth selbst wie eine Rose ist: lieblich und schön, aber eben auch stachlig. Anderseits lebt sie in dem Haus, dass ihr Großvater gebaut hat, und hat sich schon immer um die Rosen gekümmert. Sie ist also traditionsbewusst, lässt sozusagen die Tradition blühen.

Den Dörflern blüht durch Miss Strangeworth wiederum einiges an Unheil. Dabei verbindet man das Böse an sich eher mit Männern, oder?

Bestimmt. Das war auch ein Grund, weshalb ich diese Kurzgeschichte ausgesucht habe. In meinen Arbeiten setze ich mich bevorzugt mit Texten von Frauen auseinander und interessiere mich für Protagonistinnen, die erstaunliche Dinge tun; Dinge, die wir ihnen gar nicht zutrauen würden. Als ich die Kurzgeschichte las, dachte ich mir, hm, das ist ja interessant: Eine Lady, die glaubt, dass sie selbst gar nicht böse ist, aber mit ihren Briefen die Möglichkeit des Bösen in den anderen sät.

Ist Ihnen diese Frau sympathisch?

Ich versuche nicht, irgendeine Lesart auf diese Figur draufzulegen. Mein Inszenierungsstil ist reduziert, es wird kaum gesprochen und in Slow-Motion gespielt. Die Kammerspiele haben dem Abend einen Untertitel gegeben: "Nahaufnahme eines heimlichen Vergnügens", womit für mich schon der Versuch ausgedrückt ist, wie mit einer Lupe auf dieses Dorf zu blicken - mit den Augen von Miss Strangeworth.

Welche Probleme ergeben sich, wenn man in Slow Motion inszeniert?

Ganz viele. Es kann zum Beispiel passieren, dass manches zu lang und zäh wird. Ich untersuche gerne Formen der Interaktion, vor allem auch Blicke, die Menschen auf andere werfen - durch Slow Motion lässt sich das sehr gut beobachten. Shirley Jacksons Text ist zudem durch Übertitel auf der Bühne präsent. Da ist es natürlich praktisch, wenn man mitlesen und gleichzeitig dem Geschehen folgen kann.

Läuft die Kurzgeschichte in den Übertiteln ganz durch?

Ja, aber nicht jede Zeile, wir haben schon stark eingekürzt. Ich finde es wichtig, dass die Autorin direkt zum Publikum spricht. Shirley Jackson gehört in den USA mittlerweile zum literarischen Kanon, aber im deutschsprachigen Raum ist sie weitgehend unbekannt. Wir wollen sie hierzulande sichtbarer machen.

„Die Möglichkeit des Bösen“ in der Therese-Giehse-Halle.
„Die Möglichkeit des Bösen“ in der Therese-Giehse-Halle. © Julian Baumann

Shirley Jacksons bekannteste Kurzgeschichte ist "The Lottery" von 1948, in der eine Dorfgemeinschaft alljährlich eine Lotterie veranstaltet, die mit einer Steinigung endet. Und ihr Roman "The Haunting of Hill House" wurde vor drei Jahren von Netflix als Serie verfilmt. Nicht nur diese beiden Werke zählen zum Horror-Genre, in dem es neben Mary Shelley und ihr nicht viele andere Frauen gibt.

Wobei Shirley Jackson keine Splattergeschichten geschrieben hat, sondern Geschichten, die einen unterschwelligen Horror haben. Einen Horror, der sich aus dem Alltag entwickelt und mit unserer Psyche spielt. Sie hat zudem Bücher über das Muttersein geschrieben, in denen sie eigene Erfahrungen verarbeitet hat. Sie lebte in Vermont, in einem Dorf namens North Bennington und war mit einem College-Professor, Stanley Hyman, verheiratet. Mit ihm hatte sie vier Kinder, war für den Haushalt verantwortlich - und schrieb sehr viel!

Man fragt sich, wie sie das alles geschafft hat.

Es ist bekannt, dass sie sehr diszipliniert war und strikte Tagespläne verfolgte. Von 9 bis 12 Uhr hat sie geschrieben, dann hat sie gekocht und sich um ihre Kinder, die von der Schule kamen, gekümmert. Um acht Uhr abends hat sie alle ins Bett gebracht und sich noch mal an den Schreibtisch gesetzt, um weiter zu schreiben. Die Kinder erzählen auch, dass das Dauergeräusch im Haus die Schreibmaschine war.

Es ist auch bekannt, dass Shirley Jacksons körperlicher und geistiger Zustand oft sehr instabil war.

Ja, sie litt unter Depressionen und hatte starke Psychosen, bekam dagegen hochdosierte Medikamente verschrieben. Sie wirkt aber auf mich nicht wie jemand, der stark unter dem Muttersein litt. Es gibt diese tolle Anekdote, dass sie das Kartoffelpüree grün gefärbt hat, wenn ihr der Sinn danach stand. Sie hat sich mit ihren Kindern einen eigenen Kosmos kreiert, den sie vermutlich auch genossen hat.

Im Alter von 48 Jahren starb sie an einem Herzschlag, "Die Möglichkeit des Bösen" wurde posthum veröffentlicht und 1966 mit dem Edgar Allan Poe Award ausgezeichnet. Obwohl Miss Strangeworth wesentlich älter als Shirley Jackson ist, könnte man sie als Spiegelbild der Autorin verstehen, die unter dem sozialen Druck in ihrem Dorf gelitten haben soll…

Ja. Oder vielleicht ist Miss Strangeworth ein Typ Mensch, der ihr in der Nachbarschaft aufgefallen ist. Mit Stanley Hyman hatte sie einen sehr linken, zum Teil afro-amerikanischen Freundeskreis. Wenn die zu Besuch kamen, standen die Nachbarn hinter den Vorhängen und haben sie beobachtet. Ihren Kindern haben sie gesagt, dass ihre Mutter den Haushalt nicht richtig führen würde. Ich glaube, Shirley Jackson hat schon sehr unter ihrer Nachbarschaft gelitten. Es ging in Vermont nicht so zu, wie einem das liberale Bilder der Swinging Sixties aus New York City erzählen. Diese kleinstädtische Gemeinschaft war sehr konservativ, weiß und privilegiert.

Vielleicht ist "Die Möglichkeit des Bösen" Shirley Jacksons Rache an dieser Gemeinschaft?

Ich glaube schon. In "Die Lotterie" und anderen ihrer Werke geht es immer wieder um Dorfgemeinschaften. Da gibt es oft einen Kreisverkehr mit einer Fontäne in der Mitte und kleine Geschäfte - ähnlich wie in North Bennington.

„Die Möglichkeit des Bösen“ in der Therese-Giehse-Halle.
„Die Möglichkeit des Bösen“ in der Therese-Giehse-Halle. © Gabriela Neeb

Ihr Lebenslauf scheint mir eher großstädtisch geprägt zu sein. Sie haben Regie an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" studiert und machten Ihren Abschluss mit einer Diplomarbeit über die Abwesenheit von Frauen im deutschsprachigen Theaterkanon. Wie kam es dazu?

Ich wurde in Deutschland geboren, in Österreich bin ich aufgewachsen, danach ging ich zwei Jahre auf eine internationale High School in Swasiland, im südlichen Afrika. Für mein Studium ging ich in die USA. Dort gab es, was die Literatur anging, einen paritätischen Lehrplan. Als ich dann an die "Ernst Busch" in Berlin kam, fiel mir auf, wie männerlastig der deutschsprachige Theaterkanon ist. Es hat mich erstaunt, dass keiner der Texte, die uns zum Lesen gegeben wurden, von einer Frau stammte. Einmal hat eine Studentin einen Text von Elfriede Jelinek mitgebracht, das war's auch schon. Ich habe es mir dann bereits im ersten Jahr an der "Ernst Busch" zur Aufgabe gemacht, nur Texte von Frauen zu inszenieren.

Dennoch haben Sie nach Ihrem Abschluss "Die Blechtrommel" am Schauspiel Köln inszeniert.

Das war die Ausnahme von der Regel: Mir wurde dieser Roman vom Schauspiel Köln angeboten und ich musste mir überlegen: Was mache ich jetzt? Mich hat vor allem interessiert, dass "Die Blechtrommel" ein historischer Roman ist. Durch die Übertitel habe ich dann ganz viele Frauenperspektiven aus der Zeit des Romans hinzugefügt - was ich dem Verlag mit dem Argument verkaufen konnte, dass Günter Grass ja ähnlich viel mit historischem Material gearbeitet hat.

Insgesamt adaptieren Sie viel Prosa für die Bühne, darunter ist "Die Fahrt zum Leuchtturm" von Virginia Woolf und Kate Chopins "Die Geschichte einer Stunde". Zuletzt haben Sie den Roman "Kim Jiyoung, geboren 1982" der südkoreanischen Autorin Cho Nam-Joo am Schauspiel Köln inszeniert.

Ich versuche nun mal, dem Kanon etwas entgegenzusetzen und mich vor allem mit Stoffen von Frauen über Frauen auseinanderzusetzen - da werde ich vor allem in Romanen und Kurzgeschichten fündig. Es hat sich dabei automatisch ergeben, dass ich vor allem Uraufführungen inszeniere - wovor ich zunächst Angst hatte, weil das immer mit dem Druck verbunden ist, dass man der Vorlage beim ersten Mal möglichst gerecht werden sollte. Aber in den Fällen, in denen die Autorinnen noch leben, hatte ich immer total schöne Begegnungen. Die sind immer sehr berührt, wenn man ihre Stoffe machen will.

Sie haben an der Volksbühne bei Susanne Kennedy Regieassistenz gemacht, die ja auch hier an den Kammerspielen sehr viel inszeniert hat. War sie ein starker Einfluss für Ihre Entwicklung?

Auf jeden Fall. Auch ganz besonders hinsichtlich der Art und Weise, wie ich jetzt mit meinen Teams arbeite. Wie man eine große Theatermaschine in Gang setzt, dass die Proben nicht allzu lang sein sollten. Das ist total selten im Theater, dass jemand so eine Ruhe und Klarheit beim Inszenieren hat wie sie. Auch bei den Endproben: Kein Drama, kein Ausrasten - das ist total schön bei ihr.

Susanne Kennedy hat mit ihren Arbeiten hier am Haus auch gerne mal in Abgründe geschaut, sehr einprägsam bei "Fegefeuer in Ingolstadt". Die Möglichkeit des Bösen schlummert ja auch eigentlich in jedem Menschen…

Ja, wir haben alle diese Tendenz in uns - das heimliche Vergnügen am Bösen. Man kann sich aber über Shirley Jacksons Kurzgeschichte auch mit faschistischen Persönlichkeiten auseinandersetzen. Miss Strangeworth hat eine sehr klare Vorstellung davon, wie die Welt zu funktionieren hat, wie die Menschen sich darin zu verhalten haben. Sie findet auch, dass sie das Recht dazu hat, diese Briefe zu schreiben, weil sie und ihre Vorfahren schon so lange in diesem Dorf wohnen. Mein Team und ich haben uns übrigens auch nicht ganz zufällig dafür entschieden, diesen Text für München auszusuchen…

Oha. Miss Strangeworth ist Münchnerin?

Vielleicht. Wir verorten sie nicht explizit in München, aber der Geschichte haftet eine Atmosphäre an, die sich hier in bestimmten Charakteren und Umgebungen durchaus wiederfinden lässt.

Und die schöne Oberfläche ist in München sicherlich wichtig.

Ja. Die Kammerspiele liegen ja auch in der Pleasant Street!

Die Premiere am Samstag, 19.30 Uhr, ist ausverkauft. Restkarten evtl. an der Abendkasse

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