"Die Kinder von gestern, heute und morgen" von Pina Bausch

Ballettfestwochen: Pina Bauschs „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ im Nationaltheater
Vesna Mlakar |
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Szenen aus Pina Bauschs Choreographie "Die Kinder von gestern, heute und morgen" im Nationaltheater.
Wilfried Hösl 2 Szenen aus Pina Bauschs Choreographie "Die Kinder von gestern, heute und morgen" im Nationaltheater.
Szenen aus Pina Bauschs Choreographie "Die Kinder von gestern, heute und morgen" im Nationaltheater.
Wilfried Hösl 2 Szenen aus Pina Bauschs Choreographie "Die Kinder von gestern, heute und morgen" im Nationaltheater.

Wenn’s am schönsten ist, dreht man das Licht ab! Knapp drei Stunden dauert Münchens choreographische Neuerwerbung: Pina Bauschs in weiten Passagen bewegungsfrenetische Szenencollage „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“. Ein hart erarbeiteter Brocken leicht beschwingter, rauschhaft-gutlauniger aber auch slapsticklastiger Tanztheaterkunst. Beim ersten Mal mag es da schon an der Spannung hapern. Ob Sandburgbauen als Überleitung in die Pause genügt?

Das sollte kein Grund sein, den zweiten Teil zu schwänzen. Auch hier können die 15 Staatsballettler in dynamischen Gruppensequenzen überzeugen. Und die gipfeln zuletzt in einer turbulenten Kurzsoli-Abfolge eines furiosen Männerquintetts. Angesetzt wird mit einem Rutscher, weiter geht’s runter auf’s Knie. Mit den Armen schwingt man groß durch den Raum und dreht sich dann mit halbwaagrecht gelegtem Body – die Brust stumm-jauchzend zur Decke hinaufgedrückt.

Kniffliges zwischen Glück und Verzweiflung für einen starken, insgesamt neunköpfigen Boy-Cast, aus dem in solistischen Einlagen Jonah Cook (u. a. als Songimitator), Léonard Engel, Nicholas Losada, Shawn Throop, Nicola Strada oder Matej Urban herausragen. Mehr an souveräner Ausstrahlung braucht noch Urbans skurriler, von einem Kollegen über die Bühne gepusteter Tüllwolkenauftritt (mit Gießkanne als Regenmacher). Mädchen, die sich mit Hilfe von Seilen wie Steine in Richtung des anderen Geschlechts schießen, ein zusätzliches Quäntchen ausgelassenen Schmiss.

Der sanfte Nachklang langer und sommerluftiger Kleider

Von hinten katapultieren sich zwei Frauen nach vorn. Das offene Haar verwirbelt. So expressiv als hätte Emil Nolde sie in das sich verdunkelnde Bild gepinselt. Wäre da nicht dieser sanfte, bauschtypische Nachklang langer, sommerluftiger Kleider (Kostüme: Marion Cito). Joana de Andrade, die die mal kindlich-quirlige, mal schlafwandlerische Partie der zierlichen Bausch-Tänzerin Ditta Miranda Jasjfi übernommen hat, beweist durch den Wechsel in ihrem Outfit und der Wiederholung ihres Anfangssolos, wie das äußere Erscheinungsbild einen inneren Bewegungsmonolog im Auge des Betrachters verwandeln kann. Mit Séverine Ferrolier, Daria Sukhorukova, Alexa Tuzil und Zuzana Zahradniková bürstet sie nicht nur ihre Frisur mit einem Besen, sondern das bisherige Tanzerfahrungsrepertoire gegen den Strich.

Peter Pabst, der schon die Uraufführung vor 14 Jahren ausgestattet hat, verortet die spannungsbogenfreie Nummernabfolge vorlagengetreu (ganz im Sinn der gesamten Einstudierung) in einer weißen Wohnhalle mit verschiebbaren Wänden (z. B. um den mäandernden Fokus einer dahinwankenden Angetrunkenen visuell auszugestalten), hohen Schiebetüren und breitem Fenster. Es ist ein warmer, schlichter Raum für Pina Bauschs späte Beziehungs-Poesie der Ecken und Kanten. Der bunte Mix aus verhuscht-fernen bis zu laut-krächzigen Musikstücken fungiert dabei als zweite atmosphärische Ebene zur Choreographie.

Die halbminütige Umarmung als Liebe auf Probe (mit Blick auf die Uhr und Option auf eine Minute am Folgetag) haben darin markante Persönlichkeiten wie Lutz Förster oder Nazareth Panaderos kreiert. Zur Eröffnung der Ballettfestwochen schlüpften Matteo Dilaghi (zusätzlich als Geschichtenerzähler gefordert) und Marta Navarrete Villalba (ihre Sprüche provozierten die meisten Lacher) in deren Parts – mit der nicht immer evidenten Aufgabe, diese wie eigene Rollen zu übernehmen und dabei nicht bloß zu kopieren.

Eine Tour de Force

Hochgewachsen und sprechgewandt tastete Dilaghi sich trotz seiner jungen Jahre recht nah an seinen Mentor und dessen besondere, selbst in Kleinigkeiten unverwechselbar-präsente Aura heran. Für dessen gänzlich von Pina Bausch choreographiertes Solo – ein (im Wortsinn) vermessendes Bewegungsspiel der Finger, Hände und Arme am stillstehenden Körper entlang – erntete er sogar einen seltenen Zwischenapplaus.

Wie leicht die Welt aus der Balance gerät, demonstrieren zwei Männer. Sie hocken auf einem Tisch nebeneinander, als einer plötzlich von der Kante seitlich mit dem Kopf nach unten kippt. Seine Rettung ist, dass der Kollegen fix in time seinen Knöchel packt. Damit beginnt das große, von Ivan Liksa und der Pina Bausch Foundation mit dem Tanztheater Wuppertal gewagte Spiel.

Aber ist der Coup gelungen? Die Schlussapplaus-Stimmung im Nationaltheater macht klar: einhellige Begeisterung! Auf der Bühne jedoch scheint die zurückliegende Tour de Force alle noch fest im Griff zu haben. Das Erbe der 2009 verstorbenen Pina Bausch 1:1 bewahren, war hier vorderstes Ziel. Nun gilt es abzuwarten, wie der Funke, den das Einstudierungsteam mit Herzblut erarbeitet hat, weiter überspringt.

Wieder am 8. April. 10., 19. und 23. Mai im Nationaltheater. Infos und Karten unter Tel. 2185 1920

 

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