"Die Gezeichneten" von Franz Schreker im Nationaltheater

Vor sieben Jahren setzte sich Marina Abramovic im New Yorker MoMa auf einen Stuhl. Sie tat nichts anderes, als denen in die Augen zu schauen, die ihr gegenüber Platz nahmen. Ohne Pause, ohne zu essen, zu trinken, zu sprechen. Oder auf die Toilette zu gehen. Viele fingen an zu weinen, als sie ihr gegenüber saßen, manche berichteten danach von einer lebensverändernden Erfahrung.
Krzysztof Warlikowski zitiert diese Performance in seiner Inszenierung von Franz Schrekers „Die Gezeichneten“. Die Malerin Carlotta (Catherine Naglstadt) ist im Nationaltheater eine Performerin. Der hässliche Alviano glaubt, dass es schwer ist, seinem Anblick standzuhalten. Sie gestehen sich ihre Liebe. Aber es bleibt bei flüchtigen Berührungen. Carlotta lässt sich vom Macht-Mann Tamare verführen. Und geht daran zugrunde.
Lesen Sie auch unser Interview mit Ingo Metzmacher über "Die Gezeichneten"
Schrekers Oper wurde 1917 in Frankfurt uraufgeführt und zwei Jahre später von Bruno Walter im Nationaltheater nachgespielt. Die Handlung spielt in der damals beliebten Renaissance, die Warlikowski mit der Gegenwart gleichsetzt. Ein reicher Mäzen sublimiert seine unerfüllte Sexualität mit Sammeln von Kunst. Seine adeligen Freunde richten im Keller des Privat-Museums ein Geheimbordell ein. Um den Skandal zu vermeiden, schenkt Alviano seine Sammlung der Öffentlichkeit – eine Strategie, die weder damals noch heute funktioniert.
Die Mächtigen betreiben in Warlikowskis Inszenierung einen Boxclub: eine Übersetzung des dort zelebrierten Männlichkeitskults, der unter dem präfaschistischen und nietzscheanischen Motto „Die Schönheit sei Beute des Starken“ steht.
Ackern auf weiten Feldern
Vieles kommt einem aus anderen Inszenierungen des gleichen Regisseurs vertraut vor: welkes weibliches Fleisch als Vanitas-Symbol, das Volk mit Rattenköpfen. Auch die Spiegelung des Zuschauerraums auf der Bühne ist abgegriffen.
Warlikowski gelang es in seinen besten Arbeiten, das Sexuelle ohne jeden Voyeurismus auf die Bühne zu bringen. In den „Gezeichneten“ flüchtet er ein wenig vor seinem Lieblingsthema. Die Inszenierung beackert mehr die Felder Macht und Kunst. Im dritten Akt umkreisen Stummfilme zum weiten Gelände „Die Schöne und das Biest“ ein wenig oberflächlich die Ränder des Sujets (Ausstattung: Malgorzata Szczesniak).
Nach der Pause sitzt John Daszak als Alviano rauchend mit einem Whisky auf der Bühne. Er spricht mit rauher Stimme wie ein alter Punker Schrekers ironisches Selbstporträt „Mein Charakterbild“, das auch im Programmheft nachzulesen ist: „Ich bin Klangkünstler, Klangphantast, Klangzauberer, Klangästhet.“
Richard Strauss auf LSD
Das Visionäre dieser Musik bringt das Bayerische Staatsorchester mit einer kaum für möglich gehaltenen Opulenz zum Leuchten. Seidig und rauschhaft – wie Richard Strauss auf LSD.
Ingo Metzmacher begleitet mit dieser Wunderharfe meistens rücksichtsvoll. Aber auch nicht immer. Zu oft stapft er mit dem norddeutschen Rumpelfuß durch die Partitur. Die letzte elegant-gleißende k.-u.-K.-Dekadenz holt er aus dem Staatsorchester nicht heraus, obwohl das Ziel zum Greifen nah ist. Den Gemeinplatz, der Dirigent habe mit gewollten Härten die Nähe Schrekers zur Avantgarde herausholen wollen, verkneifen wir uns mangels eindeutiger Indizien.
In den „Gezeichneten“ wird neben einem riesigen Ensemble viel heldenbaritonale Kraft verlangt. Die Staatsoper bietet da mit Tomasz Konieczny (Adorno) und Christopher Maltman (Tamare) gleich zwei Wotan-Stimmen auf. Catherine Naglestad (Carlotta) und John Daszak (Alviano) singen mit viel Metall und gelegentlich etwas zu wenig Schmelz.
Endlich in München
In den letzten Minuten nach Carlottas Tod und dem Eifersuchtsmord an Tamare weicht dann der sinnliche Rausch dem Kater. Zum Aufgang einer kalten Sonne endet die Oper mit rezitativischem Sprechgesang. Da gelingt Daszak ein wahrhaft eindringlicher Schluss-Moment. Und der ist entscheidend.
Nach langem Zaudern ist die Schreker-Renaissance nun in München angelangt. Die Musik ist aufregender und auch inspirierter als der im Nationaltheater gern gepflegte späte Richard Strauss. Der Text, den Schreker als sein eigener Hofmannsthal verfasst hat, wirkt in die Jahre gekommen. Wer ihn vorher liest, hat trotz der Übertitel mehr von der faszinierend üppigen Musik. Die allerdings sollte man hören.
Wieder am 4., 7. und 11. Juli im Nationaltheater, Restkarten unter www. staatsoper.de.