"Die Attentäterin": Die Frau neben Dir, das unbekannte Wesen

Gewalt, Video und Tischgespräche: Der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani adaptiert den Roman „Die Attentäterin“ in den Kammerspielen
Vergleiche sollte man eigentlich eher vermeiden, besonders, wenn es um Penislängen geht. Dass ein Doktor und seine Kollegin sich in der Kantine eines Krankenhauses in Tel Aviv über genau dieses Thema launig unterhalten, etwa darüber, welche Nation denn am besten unten ausgestattet sei, erzählt einerseits von ihrer freundschaftlichen Beziehung, die früher auch mal ins Bett führte. Andererseits fädelt der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani zu Beginn seiner freien Adaption von Yasmina Khadras Roman „Die Attentäterin“ in den Kammerspielen so ganz heiter, im Plauderton einer Arztserie einen roten Faden über männliche Größenfantasien ein. Wer in den Grenzgebieten den längeren (Atem) hat – diese Frage führt im Nahen Osten zu einer Gewaltspirale.
Frauen schnallen sich Sprengstoffgürtel um, was sie paradoxerweise schwanger aussehen lässt
Attentate werden gemeinhin von Männern begangen. Aber auch Frauen schnallen sich Sprengstoffgürtel um, was sie paradoxerweise schwanger aussehen lässt, obwohl sie nicht das Leben, sondern den Tod bringen. Ob sie damit selbstbestimmt ihr Leben opfern oder nur als strategisch kluge, weil gewaltunverdächtige Instrumente eingesetzt werden, kann auch der unter dem Pseudonym Yasmina Khadra schreibende Autor nicht beantworten. Gemeinsam mit seinem Protagonisten, dem arabischen Chirurgen Amin, der die israelische Staatsbürgerschaft hat, spürt er aber den Motiven einer Attentäterin detektivisch nach.
Amin, den Thomas Wodianka zunächst als eben jenen scherzenden Arzt in der Kantine etabliert, bekommt mit seiner herzenswarmen, um Vernunft ringenden Kollegin Kim (Maja Beckmann) die Opfer eines Bombenattentats auf den OP-Tisch, darunter viele Kinder. Amin wird kurz darauf nicht nur mit der Leiche seiner Ehefrau Sihem konfrontiert, die eigentlich von einer dreitägigen Reise zu ihrer Großmutter aus der Nähe von Nazareth zurückkommen sollte, sondern auch mit dem Verdacht, dass sie die gesuchte Terroristin sei. Schließlich deutet ihr zerstörter Leib, auf dem allein der Kopf heil sitzt, auf ihre Täterschaft hin.
Die Inszenierung von Khadras Roman rückt auch die Attentäterin selbst ins Bild
Während Sihem in Khadras Roman weitgehend ein blinder Fleck bleibt, eine Frau, die sich dem Blick ihres Ehemanns im Nachhinein entzieht, nun tot ist und sich nur in einem kurzen Brief an Amin selbst entlarvt, steht sie bei Koohestani in Fleisch und Blut auf der Bühne. Als Frau im blümchenroten Kleid ist Mahin Sadri eine stille Geistererscheinung, setzt sich an den bühnenbestimmenden langen, weißen Tisch, sucht die Lebenden heim. In Monologen gibt Sihem Einblick in ihr Inneres, erzählt etwa, wie sie selbst den Zeitpunkt des Zündknopfdrückens und damit ihres Sterbens und das der anderen bestimmen konnte. Ein Attentat als emanzipatorischer Akt, als Moment der Befreiung?
Wie die anderen Figuren gerät Sihem in den Blick zweier Kameras, die in phallischen Säulen eingelassen sind und auf Schienen von unsichtbarer Hand bewegt werden können. Der patriarchalische Kontrollstaat ist lautlos präsent. Auf der Videowand hinten sieht man einmal riesig eine Kameralinse, liest dazu, wie umfassend Israel die Palästinenser überwacht.
Zu fassen ist Sihem auch postum nicht: In einigen Bild-Konstellationen bleibt sie in der Unschärfe, ein Phantom.
Der Kommissar verhört den Arzt
Während die Schauspieler ihre Diskussionen zu Tisch häufig im Profil zum Publikum führen, stehen die Gesichter im Live-Video hinter ihnen monumental frontal zum Zuschauerraum. Die Köpfe und die Ideologien darin sind entscheidend, die Überwachungsbilder überragen die Realität. Auch der geschriebene Text bekommt wie in einer Installation viel eigenen Raum. Die Körper spielen jedoch kaum eine Rolle, bleiben ruhig. Amin ist schnell seiner Kraft beraubt, er wird zum Zuhörer. Souverän nonchalant ist Samouil Stoyanovs im Ösi-Singsang verhörender Kommissar. Und mit altersweiser Besonnenheit erzählt Walter Hess als Kims Großvater von sich als Holocaustüberlebender. Mit Blick aufs Meer weiß er, dass es besser ist, nicht zurück, sondern stets nach vorne zu blicken. Was angesichts der Rachegelüste und Zerstörungswut im Nahen Osten ein träumerischer Gedanke ist.
Einmal zuckt Clara Liepsch als Verletzte auf Amins OP-Tisch im Todeskampf. Später spielt sie eine Bekannte von Amins Familie, die sich nach Sihems Vorbild radikalisieren will. Da hat der Abend schon einen Schritt von Tel Aviv nach Bethlehem gemacht.
Die Darsteller spielen auch die palästinensische Seite, ohne dass sie klare Gegenfiguren konturieren – Menschen sind es ja hüben wie drüben. Ob Koohestani gegen Ende schlicht die Zeit und Ideenkraft ausging oder er sich bewusst aufs Wesentliche, die Argumente, konzentriert, lässt sich schwer ausmachen.
Tischgespräche: die Familiengeschichten kommen ans Licht
Aber die Theatralisierung beschränkt sich zuletzt karg auf die Tischgespräche, bei denen weiter Hintergrundforschung betrieben wird. Da offenbart Amins Neffe, gespielt vom interessanten Ensemble-Neuzugang Benjamin Radjaipour, dass Amins Haus als Schaltzentrale der Dschihadisten genutzt wurde. Oder Amins Schwager (erneut: Samouil Stoyanov) stellt fest, dass wesentlich mehr palästinensische als israelische Kinder durch Angriffe sterben mussten. Doch Tote lassen sich nicht aufwiegen.
Eine Lösung für den Nahostkonflikt haben natürlich weder Koohestani noch Khadra parat, aber sie öffnen den Blick auf die Perspektive beider Seiten. Zum Schlussapplaus kam der Autor auf die Bühne, sichtlich erfreut über eine gelungene Variante seines Werks. Sein rasant mitreißender Roman ist aber doch, pardon, um Längen besser.
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