"Der Schneesturm" im Akademietheater: Im Krieg gegen die Zukunft

So gesehen sind wir mit Corona noch ganz gut davon gekommen. In den Weiten Russlands tobt hingegen ein Virus, der die Infizierten in werwolfartige Monster verwandelt. Wenn sie aus den Gräbern steigen, um die Lebenden heimzusuchen, hatten sie mit ihren Krallen sogar den gefrorenen Boden durchbrochen. Diese Epidemie ist freilich literarische Fiktion und eine Erfindung von Vladimir Sorokin. Der entschlossene Putin-Gegner veröffentlichte seinen Roman "Der Schneesturm" bereits 2010.
Russische Erzähler kollidieren mit der postsowjetischen Gesellschaft
Darin ließ er die große russische Erzähltradition von Puschkin, Gogol oder Tolstoi und ihre Welt von armen Bauern auf wärmenden Kachelöfen und wo die Entfernungen in Werst gemessen werden, mit einer postsowjetischen Gesellschaft kollidieren, die nach kommunistischer Diktatur von einem Autokraten mit zaristischen Ambitionen beherrscht wird. Der führe, wie Sorokin in einem Interview erklärte, einen "Krieg der Vergangenheit gegen die Zukunft".
Als sich Dramaturg Sören Sarbeck und Regisseur Marcel Kohler damit beschäftigten, den Roman für eine Inszenierung an der Theaterakademie August Everding zu adaptierten, "blickten wir auf den Text durch die Brille der Coronapandemie", heißt es in einem Programmheftbeitrag.
Die Geschichte eines Arztes, der gegen alle Widerstände auszog, die von einem Virus bedrohte Landbevölkerung mit einem Impfstoff zu versorgen, ist für Sorokin ein Gleichnis für die Putin-Herrschaft.
Inszenierung springt zwischen verschiedenen Zeitepochen umher
Der Mann im Kreml habe seine Nation zurückentwickelt in einen mittelalterlichen Feudalismus. Angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine erweiterten Sarbeck und Lohner die Perspektive von Covid-19 bis zur SS-20, der nuklear munitionierten Mittelstreckenrakete aus den Zeiten der Sowjetunion. Das führt dazu, dass das Finale des bildersatten, aber nur gut 60 Minuten währenden Abends ein wenig aus dem Leim geht.
Dieser Gefahr ist die Inszenierung bis dahin tapfer entgangen, obwohl schon die Romanvorlage zwischen den Epochen herumgespenstert.
Die Bühne ist eine große Spielwiese für die Schauspieler
Hier finden die Szenen aus dem bäuerlichen Leben einer von den Metropolen abgehängten Provinz ("Das habe ich im Radio gesehen"), kafkaesker Surrealismus und blutiger Horrorfilm munter zusammen. Der Regisseur entwickelte auch das Konzept für die Raumbühne des Akademietheaters und schuf für neun Studierende der Hochschule für Musik und Theater eine große Spielwiese. Die beiden Hauptfiguren - der Arzt Garin und sein Kutscher, den alle Krächz nennen - spielen im Verlauf die meisten davon.
Und alle sind die Pferde, die vor Beginn der Vorstellung eine Reitschule bilden, später "das Mobil" ziehen, sich bei der Abschlussfeier der medizinischen Fakultät tummeln oder auch die nach Menschenfleisch gierenden Zombies im Schnee sind.
Von Sorokins "Schneesturm" ist am Ende einiges verloren gegangen. Aber man gewinnt einen sehr eigenwilligen szenischen Kommentar zur Gegenwart, der ähnlich unübersichtlich ist wie die aktuelle Lage aus Krankheit und Krieg.
Akademietheater, 10.6, 19.30 Uhr, am 11.6. auch um 15.30 Uhr, Telefon 21851970