Der Intendant im Boxring um die neue Form

Alles prima mit Matthias Lilienthal? Der Start des neuen Intendanten der Kammerspiele war nicht einfach - für ihn, uns und das Publikum
Michael Stadler |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News

Alles prima mit Matthias Lilienthal? Der Start des neuen Intendanten der Kammerspiele war nicht einfach - für ihn, uns und das Publikum

Neulich, in den Kammerspielen: Da stehen zwei österreichische Performer, Florentina Holzinger und Vincent Riebeek, auf der Bühne des Werkraums, der jetzt Kammer 3 heißt, und sie machen allerlei wilde, die Geschmacksgrenzen testende Dinge mit ihren Körpern. Inklusive Körperflüssigkeiten. Das Publikum, durchmischt, aber eher jung, reagiert begeistert. Sie werden auch auf das, was das Duo vorführte, halbwegs eingestellt gewesen sein. Denn der Abend heißt: „Kein Applaus für Scheiße“.

"Kein Applaus für Scheiße" heißt ein Stück und galt auch sonst manchmal

Ebenfalls neulich, in den Kammerspielen. Der gefragte, gerade mal 30-jährige Regisseur Christopher Rüping inszeniert „Der Spieler“ nach Dostojewski im Schauspielhaus, das jetzt Kammer 1 heißt. Fünf Schauspieler, darunter Thomas Schmauser und Anna Drexler vom „alten“ Ensemble, performen den ganzen Roman zwischen Umzugskartons. Sie erzählen viel, lassen Perücken und Rollen herumfliegen, während auch noch vier Kinder, passend zur Dramaturgie, mitspielen. Nach über drei Stunden erntet Regisseur Rüping leidenschaftliche Buhs. Wer buht, sagt sich: Kein Applaus für…

Was Buhs und Beifall alles nicht verraten

Buhs und Applaus würde man gerne als Gradmesser nehmen, ob der Start der Intendanz von Matthias Lilienthal geglückt ist. Aber letztlich spielt auch die Zusammensetzung des Publikums eine Rolle, ihre Erwartungshaltungen und Sehgewohnheiten und das, was vom Haus geboten wird. Es ergibt sich dabei eine Unschärfe, die eine Bewertung nicht leicht macht: Vielleicht muss man sich an den neuen Ton gewöhnen. Vielleicht ist eine Inszenierung aber auch einfach misslungen. Eine Performance ist ja nicht automatisch gut, selbst wenn sie das Scheitern mitdenkt.

Für Momente hatte man den Eindruck, dass Matthias Lilienthal tatsächlich stark in die Fußstapfen seiner Vorgänger Frank Baumbauer und Johan Simons tritt. Die Internationalität des Hauses denkt Lilienthal weiter, nur in Richtung Libanon, Paris oder Tokio. Und er übernahm einen recht großen Teil des Ensembles und mischte einige Schauspieler, von deutsch bis australisch, hinzu.

Eine besonders erwähnenswerte Multi-Kulti-Truppe wie beim Berliner HAU, wo er zehn Jahre lang Chef war, hat er dabei nicht zusammengestellt. Seine Integrationsleistung besteht in München eher darin, dass er Künstler unterschiedlichster Sparten, Tanz, Klassik, Performance, Schauspiel, etwa die spielerfahrene Jazzsängerin Jelena Kuljic, nicht nur als Gäste einlädt, sondern ins Ensemble aufgenommen hat. Dazu holt er Regisseure wie Nicolas Stemann, die teilweise erstmals in München inszenieren. Die Grenzen zwischen Stadttheater und freier Szene lässt Lilienthal zerfließen, indem er Kollektive wie Rimini Protokoll neue Produktionen an seinem Haus erarbeiten lässt („Mein Kampf“).

Auch die monatlichen Spielpläne sehen im Vergleich zur Simons-Zeit wilder aus: wesentlich mehr Gastspiele, die hier und da in den Spielbetrieb eingestreut werden, mehr Projekte, mehr Projektwochenenden, die sich ein Intendant, der nicht selbst Regie führt, mit seinem Team gut ausdenken kann, weil er dafür Zeit hat.

Aufruhr und Protest sind auch gute Werbung

Für Aufruhr hat Lilienthal gesorgt, auf eine Art, die er sich nicht erträumt haben wird: Eins der „Shabbyshabby Apartments“, als billige Wohnalternativen in der Stadt verteilt, wurde in Brand gesetzt. Als ein BR-Beitrag anprangerte, dass die teilnehmenden Architekten und Künstler schäbig bis gar nicht entlohnt wurden, kam Lilienthal in Rechtfertigungszwang, wobei die Ausschreibung keinen Zweifel an dem Low-Budget-Charakter des Projekts ließ. Die CSU regte sich ob der „2. Internationalen Schlepper- und Schleusertagung“ auf, die während eines Open Border Kongresses zur Flüchtlingslage stattfand. Naja, die CSU. Das mag Lilienthal wenig gejuckt haben und war letztlich Gratis-Promotion.
Was die anfänglichen Querelen angeht, arbeitet die Zeit für Lilienthal. Man vergisst schnell. Länger bleiben die Inszenierungen.

Und, nicht gerade verwunderlich: Im Chaos der Handschriften rumpelt es noch stark im Karton. Aber es gab schon Applaus und keine Buhs für „Rocco und seine Brüder“ zum Beispiel, wobei darin klassisch Rollen gespielt werden, rasant, aber die Sehgewohnheiten weniger herausfordernd als etwa die Lesung-meets-Performance-Eröffnung mit „Der Kaufmann von Venedig“.

So müssen sich Intendant und Ensemble noch durchboxen, wobei Kampfmetaphern fehl am Platz sind. Gewünscht ist ja kein K.O., sondern eine Umarmung zwischen Theater und Publikum.

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.