"Der fliegende Holländer" in Bayreuth: Skandinavischer Regionalkrimi

Nun weiß der geneigte Wagnerianer endlich, warum der Fliegende Holländer so sehr auf weibliche Treue versessen ist.
Dmitri Tcherniakov erzählt zur Ouvertüre von Wagners gleichnamiger romantischer Oper eine frei erfundene Vorgeschichte: Die Mutter des ruhelosen Seemanns hatte ein außereheliches Verhältnis mit Daland. Sie wurde von der Gesellschaft der Kleinstadt verstoßen und erhängte sich vor den Augen ihres Sohnes.
Neuinszenierung zur Eröffnung der Festspiele
In der Neuinszenierung zur Eröffnung der diesjährigen Bayreuther Festspiele kehrt der Holländer in seine Heimat zurück, um blutige und feurige Rache zu nehmen.
Das sieht, vor allem im Showdown zwischen Müll und brennenden Häusern, ungefähr so aus, als hätten Calixto Bieito oder Quentin Tarantino nach der Generalprobe beschlossen, der Kollege Tcherniakov möge sich als Buhmann stellvertretend die obligatorischen Missfallensbekundungen abholen.
Asmik Grigorian glänzt als rotziges junges Mädchen
Dabei funktioniert diese Inszenierung trotz mancher Unschärfen besser als der zwischen 2012 und 2018 gespielte Globalisierungs-"Holländer" von Jan Philipp Gloger. Das hat vor allem mit der Senta von Asmik Grigorian zu tun.
Die 2017 in Salzburg dank einer überragenden Salome zum Star gewordene Sängerin spielt ein trotzigblondes, rotziges junges Mädchen. Sie tänzelt die lügnerischen Bläserfiguren bei ihren Worten "Ich bin ein Kind und weiß nicht, was ich singe" und macht sich außer Sichtweite Eriks körpersprachlich über dessen Liebesschwüre lustig.
John Lundgren singt den Holländer ruppig und unstet
Dass diese hinreißende Darstellerin allerdings besonders schön oder gar kultiviert singen würde, lässt sich weniger behaupten. Immerhin ist Asmik Grigorians schneidendes Timbre intensiv. Das verbindet sie mit John Lundgren, der mit einer bellenden Klingsor-Stimme ruppig und unstet den Holländer singt.
Die kraftvoll gesungene Enthüllung seiner Identität im dritten Akt macht zwar manches wett, aber die Duette mit Daland und Senta sind nichts für Anhänger kultivierten Operngesangs.
Der rundeste Erik seit langem
Zum Ausgleich schenkt uns Eric Cutler den rundesten und unsentimentalsten Erik seit langem. Gleiches gilt für die ungewöhnlich wohllautende Mary von Marina Prudenskaya. Sie leitet einen Gesangverein und wurde zur Ehefrau Dalands aufgewertet.
Die gepflegte Bürgerlichkeit, mit der sie zum Duett zwischen Holländer und Senta den Tisch deckt und Suppe aufträgt, ist das am stärksten haftende Bild der Inszenierung, auch wenn nicht wirklich deutlich wird, weshalb sich diese selbstbewusste Senta auf den Holländer und eine Verlobung einlässt. Da muss schon sehr psychoanalytisch um die Ecke gedacht werden.
Ein begeistertes Premierenpublikum
Das Premierenpublikum war trampelnd und stehend von Asmik Grigorian maximal hingerissen. Daneben ging Oksana Lynivs Debüt im Orchestergraben fast ein wenig unter. Was schade ist. Sie dirigierte nicht die blechgepanzerte Urfassung, sondern die weniger brachiale Version mit dem Harfen-Schluss.
Im Interesse einer maximalen Transparenz wurden die Streicher klanglich nach vorn geholt. Die Musik kam mehr von Mendelssohn und Carl Maria von Weber her und nicht von Wagners Haupt- und Spätwerk. Christian Thielemann hat das 2012 nicht besser gemacht, und eine trotz allem Stürmen und Drängen sängerfreundliche Begleiterin ist die Dirigentin auch.
Ignorante Buhrufer gab es ebenfalls
Womöglich verwechselten einige Buhrufer den Chorleiter Eberhard Friedrich mit dem Regisseur. Das ist die einzig mögliche Entschuldigung für ihr ignorantes Benehmen.
Denn der Festspielchor macht aus extrem schwierigen Bedingungen das Beste: Weil es im Festspielhaus keine Belüftungsanlage gibt, muss der Gesang aus dem Chorsaal übertragen werden, die andere Hälfte der Chormitglieder agiert stumm.
Der Dirigentin gilt Respekt
Naturgemäß klingt das etwas dünner als sonst, aber nie hat man den Eindruck einer technischen Vermittlung durch die Boxen an der Rampe. Und wie die Dirigentin das alles zusammenhält, verdient maximalen Respekt.
Diese gelungene Notlösung auszubuhen, ist eine Unverschämtheit, denn die Alternative wäre schlicht: keine Festspiele in Bayreuth. Dmitri Tcherniakov trifft die Kritik schon eher: Er hat aus dem "Fliegenden Holländer" einen norwegischen Regionalkrimi mit viel Bier und Pappbechern gemacht, und das ist doch etwas wenig.
Der Livestream noch bis 31. Dezember auf www.br-klassik.de.
Infos zu den Terminen in Bayreuth (ausverkauft) und den Corona-Regeln auf www.bayreuther-festspiele.de