Das Musical „Next to Normal“ von Tom Kitt und Brian Yorkey

Wenn Trauerarbeit rockt: Das Musical  „Next to Normal“ von Tom Kitt und Brian Yorkey im Deutschen Theater
Michael Stadler |
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MÜNCHEN - Ganz schnell kann auf der Bühne die Nacht in den Tag übergehen, können die Sorgen einer Mutter, die um vier Uhr in der Früh auf ihren Sohn wartet, in die Morgenroutine einer Familie hineinfließen. Alles recht normal zu Beginn dieses Musicals: Klassisch stellen sich während des Prologs die einzelnen Familienmitglieder vor, zeigen „Wie an jedem Tag“ ihre Gesangsstärke.

Doch dann steigert sich der Pop der Band ins Crescendo, Mutter Diana hört nicht mehr auf zu singen, ihre Stimme überschlägt sich fast, derweil sie sich beim Belegen der Brote verheddert, sie fallen lässt, so dass auf einen Schlag alle auf sie blicken. Die Musik setzt aus, ein Moment beklemmender Stille. Hier stimmt etwas nicht.

Leichte Verschiebungen, weg vom Alltäglichen, ins Pathologische und Phantastische hinein, machen den Reiz vieler Musicals aus, geben Individualität. Auch wenn der Massengeschmack bedient werden soll, findet sich doch oft eine Vorliebe fürs Abseitige, vom Maskengrauen des „Phantoms der Oper“ über das Schrille der „Rocky Horror Picture Show“ bis ins Rasiermesserscharfe von „Sweeney Todd“.

Normalität ist öde, das (leicht) Verrückte hingegen reibt sich hübsch mit süß ins Ohr gehenden Kompositionen - eben auch in „Next to Normal“ von Tom Kitt (Musik) und Brian Yorkey (Libretto). Den Blick lassen sie in die naheliegenden Abgründe einer Familie fallen, verdrängte Probleme und nicht vollendete Trauerarbeit tun sich unter der Oberfläche auf, was gar an die Stücke von Tennessee Williams erinnert. Nicht umsonst hat „Next to Normal“ nicht nur 2009 drei Tony Awards, sondern 2010 auch einen Pulitzer Preis im Drama-Bereich gewonnen, eine Auszeichnung also, die eher für Sprechtheater vergeben wird.

Mir fehl’n die Berge!

Im Zentrum von Stück und Familie steht die Mutter mit ihrem Knacks, verursacht durch den frühen Tod ihres Sohnes, der jedoch weiterhin in ihrer Fantasie herumgeistert. Dass man es mit verschiedenen Wahrnehmungsstufen zu tun hat, davon kündet in Torsten Fischer Inszenierung schon das in Rot gehaltene Bühnenbild: Treppenartig windet sich ein Bühnengerüst in die Höhe und bietet verschiedene Spielebenen, wobei der nur für Mutter und Publikum sichtbare, zum Jugendlichen gereifte Sohn sich vor allem in den oberen Sphären bewegt. „Ich lebe!“, singt Dennis Hupka und hat damit eines der markanteren Soli in einem Rock-bis-Pop-Musical, in dem einzelne Songfäden dramaturgisch interessant immer weitergesponnen und von einer fünfköpfigen Band souverän knackig gespielt werden, sich aber wenige Melodien auf Anhieb im Ohr festsetzen.

Was von der Vergangenheit haften bleibt, was man nicht abschütteln kann, aber vielleicht loslassen sollte, davon handelt das Stück und bezieht dabei schönerweise keine eindeutige Position. Zwar leidet die Familie, weil Mutter Diana den Geburtstag des Sohnes weiterhin feiern will und auf sein Dasein beharrt. Aber wenn Vater Dan sich später weigert, den Namen des verstorbenen Kindes auszusprechen, zeigt sich ein Mangel an Verarbeitung, der die Familie ebenfalls im Innern zerreißt.

Umnebelt von Marihuana

Therapie ist also notwendig, nicht nur für die Mutter, aber sie allein wird durch die Mangel genommen: zunächst von einem Psychiater, der ihr einen Mix von Pillen verschreibt, dann von einem, der sie mittels Elektroschocks heilen möchte. Felix Martin spielt beide Ärzte als Vertreter einer bis zum Irrsinn rationalen Zunft. Den Mann für die Schocktherapie lässt er zu hereinbrechender Rockmusik herrlich komisch zappeln und hat dabei eine grandiose Gesangstimme. Was man leider nicht von allen sagen kann. Vor allem Guntbert Warns ist mehr Schauspieler als Sänger, gibt als Vater Dan zwar eine sehr sympathische Figur ab, hat aber dann allzu viele Gesangspassagen zu stemmen.

Sophia Euskirchen als musikbegabte Tochter Natalie und Anthony Curtis Kirby als ihr neuer Freund Henry legen mit „Richtig für dich“ ein schönes Duett hin und spielen die Turbulenzen einer jungen Liebe durch, umnebelt von Marihuana-Rauch, weil die Jungen eben auch ihr Anrecht auf Fehltritte haben. Ihre Bewegungen führt Regisseur Torsten Fischer ab und zu parallel zu jenen der Eltern – was die Alten kennen, haben die Jungen noch vor sich. „Mir fehl’n die Berge!“, singt Mutter Diana. Dass im Alter die Leidenschaften etwas niedriger köcheln, merkt man ihrer Darstellerin jedoch kaum an - Katharine Mehrling durchlebt das Auf und Ab der bipolar Gestörten so, dass das Publikum mitgeht.

Braucht’s da überhaupt Therapie? Am Ende wählt Diana einen neuen Weg. Das Deutsche Theater hat sich dafür entschieden, diese Inszenierung vom Berliner Renaissance-Theater nach München zu holen. Und auch wenn es nicht die allererste Musical-Sahne ist, erlebt man einen unterhaltsamen Abend, mal was Neues, etwas neben der Spur, berührend, bis auch bei den Normalos Tränen fließen.

Deutsches Theater, noch bis 23. Juli, Mi bis Sa, 19 Uhr, So 18 Uhr, Karten unter Telefon 55 23 44 44

 

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