"Das Erbe" in der Kammer 2 - die AZ-Kritik

„Das Erbe“ von Olga Bach und Ersan Mondtag in der Kammer 2
von  Mathias Hejny
Tina Keserovic in „Das Erbe“.
Tina Keserovic in „Das Erbe“. © Smailovic/Kammerspiele

Wäre man damals in Salzburg schon so findig gewesen wie heute in den Kammerspielen, so wäre die Theatergeschichte um einen Eklat ärmer. 1972 stritt man medienwirksam darüber, ob bei der Uraufführung von Thomas Bernhards „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ das Notlicht ausgeschaltet werden dürfe.

Heutzutage werden in der Kammer 2 die Hinweise auf die Notausgänge von Statisten einfach so lange mit Blenden an langen Stöcken bis zu einem eventuellen Zwischenfall verhängt.  Ersan Mondtag geht es in der Uraufführung von „Das Erbe“ allerdings nicht um die Schaffung „vollkommener Finsternis“. Er will das von Bühnenbildner Rainer Casper delikat ausgetüftelte Beleuchtungskonzept aus flächendeckender Projektion und der immer wieder betörenden Magie des Schwarzen Theaters vor Streulicht schützen. Dieser verwunschen scheinende Ort mit machtvoller Wirkung auf den Betrachter ist Schauplatz einer „Assoziation zum NSU“ der jungen Autorin Olga Bach.

Projekte zum noch immer an der Nymphenburger Straße verhandelten Prozess um die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds sind in Münchens Theatern nicht neu. Elfriede Jelinek hatte Johan Simons mit „Das schweigende Mädchen“ beliefert, einer zornigen Montage aus Protokollen, Medienberichten und Erlösermotiven. Im Marstall kümmerte sich Christine Umpfenbach mit der Recherche „Urteile“ um die Hinterbliebenen der Opfer.

Beeindruckende Radikalität

Erklärendes Dokumentartheater ist allerdings nicht das, wofür Ersan Mondtag zur Zeit gefeiert wird. Auszüge aus den Prozessprotokollen oder Statements von Politikern und Juristen gehören natürlich auch zu den „Assoziationen“, aber nach Schuld wird im gesamten Kulturerbe sehr weiträumig gefahndet. Zu den Erblassern gehören Sophokles und Heiner Müller, Friedrich Schiller und Franz Kafka, Luthers Porträtist Lucas Cranach und Comic-Held Spongebob, AfD-Giftmischer Björn Höcke oder Backpulvermischer Doktor Oetker. Die schweigende Angeklagte Beate Zschäpe ist auch da – ein verhuschtes kleines Mädchen, dessen fortgeschrittener Babybauch das Assoziationsfeld um Brechts „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ erweitert.

Die Nackte gebiert ein menschliches Gehirn, das sie der Erbengemeinschaft im Zuschauerraum entgegen streckt. Geburtshelfer waren sechs androgyne Aliens, die offenbar die Schwangere in die unendlichen Weiten des Alls entführt haben. Die verschwörungstheoretische Verlagerung des Faschismus-Diskurses in den interstellaren Raum ist auf den ersten Blick ein billiger Trick, sich vor dem Thema effektvoll zu drücken. Aber die Radikalität, mit der Mondtag hier in erstaunlichen Bildern und Tönen die eigene Verantwortung für ein Scheitern der Kunst an der Realität übernimmt, ist beeindruckend und macht ihn zu den interessanteren Figuren in der gegenwärtigen Theaterlandschaft. 

Münchner Kammerspiele, Kammer 2, Samstag, 27. Juni, 2., 4. Juli, 20 Uhr, sonntags 19 Uhr, Telefon 23396600

 

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