Das Bolschoitheater: Tanzen im Säurebad und Scherbenhaufen
Die Wirklichkeit ist krasser als in einem Hollywood-Thriller: Der Dokumentarfilm „Bolschoi Babylon: Chronik eines Skandals“
Vor sechs Jahren: Der US-amerikanische Psychothriller „Black Swan“ von Darren Aronofsky mit Natalie Portman erschüttert die Tanzwelt. Ballett – ein psychisch krank machender Beruf? So einen abgründigen Blick in die eigene Kunstsparte wollten viele – wie Hamburg-Ballett-Chef John Neumeier – nicht hinnehmen. Dabei war das Sujet reine Fiktion: also Fantastereien eines Regisseurs.
Seilschaften, Rivalität, Korruption und Auftragsterror
Die aber wurden am 17. Januar 2013 von einer realen Gewalttat getoppt: Dem ehemaligen Ersten Solisten und künstlerischen Leiter des Bolschoi-Ensembles, Sergej Filin, wird in einem Hinterhalt Schwefelsäure ins Gesicht geschüttet.
Moskaus legendäre Ballettkompanie steht in den Negativ-Schlagzeilen. Das Bolschoi-Ballett – Russlands historisch-politische Vorzeigeinstitution – ein Schlachtfeld persönlicher Intrigen und Monstrositäten?
Um zumindest einen Teil des Augenlichts zu retten, vermittelte Neumeier schnell den Kontakt zu einer Spezialklinik nach Aachen.
Zeitgleich beendeten unweit des Schauplatzes der britische Regisseur Nick Read und sein Produzent Mark Franchetti ihre Dokumentation über die berüchtigte russische Strafkolonie Nr. 56. Das Team ergriff sofort die sich bietende Chance, im Schockzustand eines kollektiven Traumas mithilfe von Franchettis Erfahrungen als Russland-Korrespondent der „Sunday Times“ fast ein halbes Jahr lang ins Herz der Spitzenkompanie vorzudringen.
Zum Vorschein kamen Bolschois von Seilschaften und Rivalitäten umkämpftes, von Hierarchien und Korruption geprägtes und plötzlich von Auftragsterror erschüttertes Machtzentrum. Russlands Marken-Alternative zur Kalaschnikow.
Weitere nachdenklich machende, weil teils unverblümte Kernaussagen im Dokumentarfilm „Bolschoi Babylon“ kommen vom Ex-Direktor Boris Akimow, den Ballerinen Maria Alexandrowna, Maria Allash und Anastasia Meskowa sowie dem Attentatsopfer Filin persönlich.
Entstanden ist eine mit lokalen Nachrichtenbildern und (Tanz-)Impressionen vergangener Tage angereicherte, oftmals spannende und professionell gemachte Doku-Reportage, deren Skript das Leben selbst schrieb.
Sonst rücken, wenn Tanz im Mittelpunkt steht, meist kreative Schwierigkeiten oder Leistungen von Choreografen und Interpreten in den Fokus. Während des 87-minütigen Filmverlaufs von „Bolschoi Babylon“ wird man jedoch zum Zeugen tragischer Lebensfakten. Mit Pawel Dmitrischenko wird letztlich ein Solist aus den eigenen Reihen als Anstifter des Attentats auf Ballettdirektor Filin dingfest gemacht und abgeurteilt (sechs Jahre Zuchthaus mit Zwangsarbeit).
Alles aufgeklärt und aufgeräumt? Nein, die nächste Runde!
Am Bolschoi wird derweil aufgeräumt. Der Kreml greift ein und ernennt Wladimir Urin zum neuen Intendanten. Als neuer Oberboss auch von Sergej Filin, der sich unterdessen zig schweren Operationen unterziehen muss, will er das Haus von alten Missständen befreien und Unabhängigkeit in künstlerischen Entscheidungen einführen.
Aufklärung und Transparenz zum Trotz: Kurz nach Abschluss der Dreharbeiten muss Filin, der nach mehrmonatiger intensiver Behandlung zurück in sein Amt kehrt, einem Nachfolger weichen: Makhar Vaziev, einem, der in der St. Petersburger Konkurrenz-Kompanie groß wurde. Das Spiel geht in die nächste Runde.
Kino: heute Fr (19 Uhr), So (13.30 Uhr) sowie Mittwoch 27.7. (19 Uhr), im Atelier Kino (beim Stachus)
- Themen: