Claus Peymann inszeniert "Minetti"
Es ist ein nostalgischer Abend. Die Inszenierungen der 68er-Generation genießen bei heutigen Theatergängern einen Klassiker-Status wie bei ihren Eltern Kortner oder Gründgens. Und weil der örtliche Platzhirsch Dieter Dorn 30 Jahre ungebührlich dominierte, musste man nach Berlin, Wien, Stuttgart, Bochum oder Hamburg reisen, um Arbeiten von Peter Stein, Jürgen Flimm und Claus Peymann zu sehen. Oder nachts den Fernseher einschalten, wie derlei damals noch gezeigt wurde.
Nun hat Andreas Beck seinen vormaligen Chef Peymann zu einer Gastregie am Bayerischen Staatsschauspiel überreden können: Im Marstall inszenierte er Thomas Bernhards "Minetti" mit Manfred Zapatka.
Dieses 1976 in Stuttgart mit Bernhard Minetti uraufgeführte Stück ist sicher nicht der beste Text des österreichischen Beschimpfungsvirtuosen, sondern eine ironische verdünnte Wiederholung von Samuel Becketts "Warten auf Godot": Minetti wartet in Oostende auf den Schauspieldirektor von Flensburg, der ihn für ein Gastspiel als Lear zum 200-jährigen Jubiläum der Gründung des Theaters engagieren will. Und naturgemäß redet das verkannte, vor Jahrzehnten von den kunstfeindlichen Stadtvätern Lübecks ins Exil nach Dinkelsbühl vertriebene Genie viel und unablässig über das Warten, das Theater und das Theater als Welt- und Existenzmetapher.
Peymann kann's noch immer, was bei 86-jährigen Regisseuren durchaus nicht selbstverständlich ist. Im Unterschied zu den meisten jungen Regisseuren entschieden nicht gleich die ersten fünf Minuten den Rest des Abends. Zapatka und Barbara Melzl agierten anfangs ziemlich komödiantisch. Die immer wieder in harter Fügung hereinplatzende Silvestergesellschaft veränderte sich zusammen mit der Gesamt-Stimmung unmerklich ins Surreale. Ganz am Ende, wenn Minetti endlich die angeblich von James Ensor entworfene Lear-Maske zeigt, wähnt man sich nach pausenlosen 90 Minuten tatsächlich in eine Art "Endspiel".
Manfred Zapatka spielt den gealterten Schauspieler im überweiten Mantel und einer clownsmäßig rautierten Hose. Mit seinem Hut erinnert er auch ein wenig an Goethe - vor allem, wenn er die Hand des Mädchens auf sein Knie legt und feinst dosierte Spuren alterserotischen Interesses aufkommen. Bei theaterhistorischen Feinschmeckern mag da sogar die Einsicht aufblitzen, Klaus Michael Grüber habe sich bei seinem "Faust" 15 Jahre nach Bernhards Stück mit dem damals 76-jährigen Minetti in der Gretchen-Szene von Peymanns Inszenierung inspirieren lassen.
Die stark beschwipste ältere Dame (Barbara Melzl) deutet zumindest an, dass sie die Silvesternacht lieber mit ihm als einsam mit zwei Flaschen Champagner auf dem Zimmer verbracht hätte. Das ist eine schöne psychologische Nuance, die man heute im Theater eher selten sieht.
Manfred Zapatka sieht - vor allem im Profil - wie Bernhard Minetti aus. Wenn er in der Szene mit dem Mädchen auf dem Weg zum Koffer stoppt und die Lear-Maske doch nicht herausholt, macht er eine typische Minetti-Geste. Allerdings fehlt ihm das Zirkusdirektorenhafte und die auf Grenze zwischen Ernst und Lächerlichkeit balancierende Großschauspieler-Emphase, die zu der Rolle gehört.
Dass Zapatka nicht wie Minetti noch am Preußischen Staatstheater engagiert war und nicht wie bei seinem Vorgänger die ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts mitspielt, kann man ihm nicht vorwerfen. Aber er war immer ein sehr kalter, sachlicher Darsteller. Das ist er auch im Alter geblieben. Und so sehr es bei vielen Rollen eine Tugend sein kann, hier passt es nicht.
Die anderen Darsteller hören vor allem zu. Ganz reizend macht das Naffie Janha als Mädchen. Mauro Nieswand, ursprünglich einer der Maskierten, sprang für Arnulf Schumacher - dem er sehr ähnlich sieht - als Portier ein. Kein Geringerer Achim Freyer lässt sehr effektvoll den Schneesturm durch Oostende wehen. Die Lear-Maske mit den aufgerissenen Augen aus Edvard Munchs "Der Schrei" stammt sehr deutlich von diesem 89-jährigen Ausstattungsmeister und kaum von Ensor. Was aber auch sehr schön ist.
"Minetti" ist - mit leichten Abstrichen - ein Kabinettstück, das im Marstall von der Nähe zur Bühne profitiert. Auch wenn die Feiernden für Sekunden an eine Fridays-for-Future-Demo erinnern, ist der Abend angenehm aus der Zeit gefallen. Und den leichten Staubgeruch von Museum kann man - je nach persönlicher Geneigtheit - sehr anheimelnd finden: wie ein gemütliches altes Wohnzimmer.
Wieder am 19. November, 12., 13., 31. Dezember und an Neujahr im Marstall. Karten unter residenztheater.de
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