Kritik

Christiane Mudras "Hotel Utopia"

Die Performance versetzt die Besucher in die Perspektive von Migranten
von  Michael Stadler
Bürokratie im "Hotel Utopia"
Bürokratie im "Hotel Utopia" © Verena Kathrein

Am Anfang muss man warten. In der Schlange stehen. Ausharren, bis man drankommt. Der Einlass ähnelt einer Grenzstation. Man bekommt einen Pass überreicht, in dem zum Beispiel der Name einer Frau aus Pakistan steht, Parveen Rafeeq, dazu weitere Dokumente. Nachdem einem so buchstäblich eine andere Identität verpasst wurde, darf man den Raum der Performance betreten. Über dem Eingang eine Warnung: "Achtung! Sie betreten den Transitbereich. Es gilt die Fiktion der Nichteinreise."


Ein ganzes Stockwerk haben Christiane Mudra und ihr Team - darunter Julia Kopa als Raumausstatterin mit sichtbarer Lust am surrealen Detail - im ehemaligen Gesundheitshaus in der Dachauerstraße 90 belegt. Draußen leuchtet der Titel von Mudras neuer Regiearbeit als Schriftzug in verführerischem, trügerisch-warmen Rot: "Hotel Utopia". Im Gebäude befindet sich derzeit das "Kunstlabor 2", eine kulturelle Zwischennutzung, die auch eine Initiative für Interkulturelle Begegnung und Bildung beherbergt, die unter anderem Betreuung für migrantische Kinder und Deutschkurse anbietet.

Es ist ein passender Ort für Mudras "interaktives Gesellschaftsspiel", bei dem das In-der-Schlange-stehen und Warten zu den wiederkehrenden Erfahrungen gehört. Denn was man hier selbst erleben soll, ist, wie es für Menschen auf der Flucht, für Einwandernde ist, wenn sie in Deutschland ankommen und einer Bürokratie ausgesetzt sind, die nicht gerade im Dienste der "Willkommenskultur" steht.

Im Gegenteil: Wer in Deutschland einwandern will, muss einen strapaziösen Parcours durchmachen, an dessen Ende die Abschiebung droht. "Sag Rückführung, damit es schön klingt", heißt es einmal während dieser immersiven Performance, die sich beachtlich aktuell einer der zentralen politischen Debatten der jüngsten (Wahlkampf-) Zeit annimmt. "Wir brauchen eine Integrationsgrenze" wird Markus Söder gegen Ende zitiert. "Wir müssen mehr und schneller abschieben", Olaf Scholz. Die Union möchte die "Asylwende", Christian Lindner "die Kontrolle über die Einwanderung zurückgewinnen".


Aber wie sieht es auf der anderen Seite aus? Als Partizipant mit ausländischem Pass durchläuft man über zwei Stunden hinweg einen Parforceritt der Behördengänge, wird innerhalb der Etage hin- und hergeschickt: vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zum Jobcenter zum Sprachkurs zum Integrationskurs zum Wohnungsamt etcetera, mal dahin, mal dorthin, jeder Teilnehmende auf seiner eigenen Odyssee, die jederzeit zu einer Behörde zurückführen kann - ein kafkaeskes Szenario.

Das Getümmel in den Gängen, die Warteschlangen vor den Türen lassen sich nicht im Voraus planen, aber Christiane Mudra, die auch eine versierte Improtheaterspielerin ist, hat für das spontan entstehende Chaos einen starken, gleichsam flexiblen performativen Rahmen geschaffen.

Bleibt das spielende Team zunächst weitgehend in den einzelnen Räumen, um Beamtinnen und Beamte zu mimen, die zwar nicht komplett unfreundlich, aber doch nüchtern und recht mechanisch die einzelnen Asylbewerberinnen und -bewerber abfertigen, so streut Mudra zunehmend solistische Einlagen und im Wechsel gesprochene Passagen ein, performed in den dunklen, spärlich theatral beleuchteten Gängen.

Klar, Langeweile gehört neben Verunsicherung und Aufregung sicherlich zur Erfahrung von Einwandernden dazu, sollte im Theater jedoch eigentlich vermieden werden. Durch die Spielmomente werden die einzelnen Besucherrouten unterbrochen, was eine willkommene Abwechslung zur sich einschleichenden Langeweile der ständigen Behördengänge ist. Einiges verpasst man auch, weil man eben doch seinen Platz in einer Warteschlange nicht verlassen möchte. Der Partizipierende hat die Qual der Wahl, wird zwischen Erleben und Zuschauen hin- und hergeworfen.


Eine gewisse Überforderung gehört zu den investigativen Regiearbeiten von Christiane Mudra dazu, vor allem auch, was die Informationsfülle angeht. Dass sie hier erneut akribisch-ausgiebige Recherchen betrieben hat, macht sich in den faktensatten Redebeiträgen der Spielenden deutlich bemerkbar. So wird die Geschichte des Passes genauso detailreich referiert wie einschneidende Ereignisse in der Geschichte des Kolonialismus und der Migration. Mudra ergründet die Entstehung nationaler Grenzen, damit einhergehend von Diskriminierung: "Der Rassismus ist so selbstverständlich in unsere Gesellschaft eingeschrieben, dass er kaum noch auffällt", stellt Meriam Abbas einmal fest.

Abbas spielt die gestrenge Abteilungsleiterin, die ein seltsames Faible für den Geruch von Pässen hat. Ein bisschen schräg sind sie alle, die Beamtinnen und Beamten, die von ihr, Sebastian Gerasch, Gabriele Graf, Melda Hazirci, Ariella Hirshfeld, Richard Manualpillai und Waki Meier verkörpert werden. Es muss harte Arbeit sein, sich Mudras sachbezogenen Text voller Jahreszahlen, historischer Details und politischer Zusammenhänge mitsamt furios engagierter politischer Haltung anzueignen. Das Ensemble meistert diese Aufgabe hervorragend. Und kippt nur selten ins Sentimentale, wenn es tiefere Einblicke ins Innere der Bürohengste gibt - und vor allem der Menschen, die diese menschlich betreuen sollten.

"Hotel Utopia" versetzt das Publikum eindringlich in die Lage von Migrantinnen und Migranten, ist eine mit aller immersiver Kraft vorangetriebene Einübung in Empathie und Solidarität.

Angesichts des stärker werdenden Rufs nach einer härteren Asylpolitik appellieren Christiane Mudra und ihr Team ans soziale Verantwortungsgefühl - gegenüber Menschen, die aus triftigen Gründen ihre Heimat verlassen haben, verlassen mussten. "Die Regelungen sind nicht dafür da, dass der Einwandernde sie versteht, sondern dafür, dass wir die Einwanderung steuern können", heißt es einmal. "Entbürokratisierung" ist ein Wunsch, der dann lautstark durch die Behördengänge hallt. Er klingt, leider, nach einer Utopie.

Kunstlabor 2, Dachauerstr. 90 (nahe Stiglmaierplatz), bis 12. November, jeweils drei Slots ab 19.00, 19.20 und 19.40 Uhr; Reservierung unter investigativetheater.com

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