Christian Stückl: "Manche Sachen müssen reifen"

Über 50 Mal ist Jesus nun schon am Kreuz gestorben. Gut 50 weitere Male werden es bis zum 2. Oktober sein - und das wahrscheinlich vor fast ausverkauften Zuschauerreihen im Passionstheater. Trotz allerlei Widrigkeiten - Coronakrise, Krieg und Inflation - haben die Passionsspiele zur Halbzeit 85 Prozent Auslastung. Trotz mancher Schwierigkeiten zieht Regisseur Christian Stückl eine positive Zwischenbilanz.
AZ: Herr Stückl, Sie hatten 500. 000 Zuschauer im Jahr 2000. Das war noch ein wunderbares Jahr und ihre zweite Passion als Spielleiter, vor 9/11 und anderen Krisen ...
CHRISTIAN STÜCKL: Es ist immer irgendwas: Vor der Passion von 2010 zum Beispiel ist die amerikanische Bankenkrise ins Rollen gekommen, was dann die Rückgabe von 80.000 Karten zur Folge hatte, die dann aber viele aus dem deutschsprachigen Raum gekauft haben, sodass die Passion auch 2010 erfolgreich war.
Die jetzigen Passionsspiele wurden wegen Corona um zwei Jahre verschoben - und die Pandemie ist noch nicht vorbei. Und wie läuft's?
Wir hatten bisher einen Rückgang auf 85 Prozent Auslastung, aber die Tendenz ist wieder steigend.
Aber in diesem Jahr ist doch die Coronakrise sicher immer noch spürbar - und dann auch noch der Ukrainekrieg ...
Die Amerikaner haben eine 42-Stunden-Regel für Stornierungen durchgesetzt, sodass man also noch zwei Tage vor Abreise absagen kann. Das allein bringt über 200 Rückgaben täglich - ganz kurzfristig. Aber es sind immer noch viele gekommen.
"Es ist ein wunderbares Rätsel, dass auch diese Zuschauer unsere Passion so intensiv erleben"
Wenn man unter den Zuschauern sitzt, fällt auf, dass viele Englisch reden. Aber die verstehen doch wenig.
Wir haben eine englischsprachige, gedruckte Version, die viele dann mitlesen. Und aus dem Ausland kommt eher ein älteres Publikum. Die wirken bibelfest und kennen daher die Geschichte halt gut. Aber dennoch: Es ist ein wunderbares Rätsel, dass auch diese Zuschauer unsere Passion so intensiv erleben. Aber man kann bei dieser Frage auch einen größeren Bogen spannen: In den 70er-Jahren waren 80 Prozent aus dem englischsprachigen Raum, was ja für ein oberbayerisches Passionsspiel so nicht gedacht war. Aber uns ist es in den vergangen drei Aufführungen und jetzt wieder gelungen, dass sich das Ganze ausgleicht. Man sieht das auch an den Einführungen, die wir auf Englisch und Deutsch machen, woher wie viele kommen. Das hält sich jetzt - ganz gesund - die Waage. Und wenn man unter den Leuten von weither rumfragt, kommen unsere Zuschauer auch aus Südafrika, Singapur, den Philippinen, aus Schottland oder Kanada und - wie immer - auch viele Skandinavier.

Was zu der Frage führt, wie katholisch so eine Passion ist. Sie haben viele berühmte Textstellen weggelassen wie etwa die Einsetzungsworte des Abendmahls. Damit vermeiden Sie die christliche Diskussion, ob wirklich, wie der Katholizismus behauptet, eine Verwandlung von Brot in Fleisch, von Wein in Blut stattfindet.
Für mich war wichtig, die Aufführung nicht zur Messe werden zu lassen. Deshalb haben wir auch hebräische Segenssprüche genommen. Außerdem werden Kerzen an der Menora entzündet. Das soll klar machen, dass es ein jüdisches Zusammenkommen vor dem Pessachfest war. Das Abendmahl und seine Einsetzungsworte wurden erst über die Jahrhunderte Teil einer christlichen Liturgie, die ich eben nicht nachstellen wollte.
Sie haben auch "Selig bist Du, Simon, auf diesen Fels will ich meine Kirche bauen", weggelassen, was ja als Bibelvers gilt, auf den die katholische Kirche ihr Papsttum aufbaut.
Ich glaube, dass diese Verse ahistorisch sind und dass Jesus das Wort "Kirche" nie in den Mund genommen hat.
"Ich hoffe schon, dass die Kirche sich damit auseinandersetzt"
Dazu passt, dass der Klerus - in diesem Fall der jüdische - selbst keine moralische Instanz ist und scharf von Jesus angegriffen wird: Ihr habt kein Recht, zu sagen, was richtig und falsch ist. Das könnte man eins zu eins auch für heute nehmen und es würde dem Klerus nicht gefallen.
Matthäus 23 - das ist eine Bibelstelle, die in der Kirche ungern zitiert wird, weil da die Priesterkaste als Heuchler gebrandmarkt wird, die nur auf ihre Macht und ihr Ansehen aus sind und das auf Teufel komm raus erhalten wollen und eben kein mündiges Volk wollen. Und das spricht auch bei uns Jesus auf der Bühne ganz offen aus: "Sie binden schwere Bürden und legen sie euch auf die Schultern, sie selbst aber wollen keinen Finger dafür krümmen, alles was sie tun, tun sie nur, um von den Leuten gesehen zu werden. Ihr Heuchler, weh euch, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr geht nicht hinein. Ihr seid wie die übertünchten Gräber, die von außen schön aussehen, aber innen sind sie voller Totengebein und lauter Unrat." Damit ist aber nicht gesagt, dass es grundsätzlich keine Priesterschaft geben sollte. Und ich hoffe schon, dass die Kirche sich damit auseinandersetzt.
Ein wichtiges Element der Passion sind die "Lebenden Bilder" nach Szenen aus dem Alten Testament. Sie stellen die Verbindung zwischen dem alttestamentarischen Bund Gottes mit den Israeliten und dem "neuen Bund" des Neuen Testaments durch Christus her.
Das ist aber nicht so einfach. Seit 1750 gibt es diese Struktur. Aber die Bilder waren eher dazu da, das "Alte Testament" aufzuheben, es abzulehnen. Da war auch noch Antisemitismus im Spiel. Heute weiß man da historisch und theologisch mehr: Wenn Jesus sagt, man soll auch die andere Wange hinhalten anstatt "Auge um Auge", muss man sehen, dass schon Moses' "Auge um Auge" ein riesiger Fortschritt war, weil man zum Beispiel zuvor beim Raub eines Schafs beim anderen die ganze Herde als rächende Strafe nahm oder bei einer Tötung gleich die ganze Sippe des Täters getötet und deren Felder niedergebrannt hat. Was Jesus sagt, ist eben eine rechtliche Evolution und kein Gegensatz.
"Wer hier wohnt, soll mitspielen können"
Sie haben auf der Pressekonferenz zur Halbzeit der Passionsspiele das althergebrachte "Spielrecht" nur für Oberammergauer als "ziemlich dämlich" kritisiert und für eine Öffnung plädiert: "Wer hier wohnt, soll mitspielen!" Aber Sie sind schon seit 1986 Spielleiter. Warum kommt diese Forderung erst heute?
Das muss sich alles entwickeln, auch in mir. Ich selbst war ja am Anfang kein großer Freund des "Frauenspielrechts". Dann kam das Urteil, dass Frauen gleichberechtigt sind. Ich habe mich beim nächsten Mal dafür eingesetzt, dass die Mitgliedschaft in einer Kirche nicht Voraussetzung zum Mitspielen ist - also herrscht jetzt Religionsfreiheit. Manche Sachen müssen eben reifen. Und ich wollte auch schon vorher bei der Frage, dass man hier seinen Wohnsitz haben muss, von 20 auf 15 Jahre runter. Das ist nach 1945 erst so klar eingeführt worden, um Flüchtlinge draußen zu halten. Aber man kann sogar darüber nachdenken, das Spielrecht ganz abzuschaffen, sodass ein Spielleiter freier mit der Frage umgehen kann: Was braucht man auf der Bühne? Und nicht: Wen muss ich unterbringen? Zum Beispiel: Bei der aktuellen Aufführung hätten 1900 Erwachsene ein Spielrecht gehabt. 500 haben verzichtet, so dass es dann noch 1400 waren. Und ich finde eben: Wer hier wohnt, soll mitspielen können.

Neben dem Passionstheaterspiel spielt ja auch die Passionsmusik von Rochus Dedler eine große Rolle, mit Solisten und großem Chor. Sie wurde zwischen 1811 und 1820 komponiert und immer wieder bearbeitet und erweitert. Sie klingt nach einer Mischung aus Bach und Haydns "Schöpfung". Warum hört man diese Musik nicht auch zwischen den Passionsspieljahren mal?
Das hat nichts mit mangelnder Qualität zu tun. Ich kenne sie gut, weil ich früher ja auch im Chor gesungen habe, auch wenn sich vieles verändert hat. Ich gehe da innerlich auch voll mit. Aber es ist so: Die Gemeinde Oberammergau hat die Rechte am Stück und der Musik und wacht darüber. Und die wollen, dass weder die Passion woanders aufgeführt oder sie filmisch aufgezeichnet wird, noch die Musik woanders gespielt wird. Es soll eben ein konzentriertes Erleben hier in Oberammergau alle zehn Jahre bleiben.
Die Passionsspiele finden noch bis zum 2. Oktober statt. Karten unter Telefon 08822 / 835 93 30 und www.passionsspiele-oberammergau.de