Christian Spuck über "Anna Karenina"
Tanz, Musik, Ausstattung und Subtext! Das sind en gros die Ingredienzien, mit denen Christian Spuck auf der Bühne Atmosphäre schafft. Der 48-jährige Hesse, leitet seit 2012 das Ballett Zürich. Vor drei Jahren stellte er dort seine choreografische Auseinandersetzung mit Lew Tolstois Roman „Anna Karenina“ vor. Am Sonntag hat der hochdramatische Abendfüller beim Bayerischen Staatsballett Premiere – als erste Neuproduktion der Spielzeit.
AZ: Herr Spuck, seit 12 Jahren inszenieren Sie neben Ihrer Arbeit fürs Ballett immer wieder auch Opern. Was fasziniert Sie am Musiktheater?
CHRISTIAN SPUCK: Ich glaube, dass es bei jeglicher Form von Musiktheater – sei es Oper oder Ballett – stets um das Thema Menschsein geht. Darum, wer wir sind, was wir mit uns machen, wie – in welchen Beziehungen und Konstellationen – wir leben.
Wie setzen Sie sich als Choreograf mit Geschichten auseinander?
Mit geht es um das Warum - weniger um Ornament und Form. Geschichten, in denen das Konfliktpotenzial so gering ist, dass keine Tiefe entstehen kann, finde ich schwierig. In den Balletten des 19. Jahrhunderts dient Handlung oft als Folie für klassischen Tanz: schöne Arabesken, Hebefiguren und Pirouetten. Das hat seine Qualität, interessiert mich als Künstler aber nicht. Ich denke andersrum und möchte die Sprache des Tanzes – egal ob klassisch oder mehr zeitgenössisch – dazu benutzen, einen Stoff zu erzählen und mittels Schritten Figuren zu erklären. Einer der ersten, der das gemacht hat, war John Cranko. Obwohl ich mich eigentlich nicht in dieser Tradition sehe, bin ich dennoch damit groß geworden.
Warum ist Ihre Wahl auf „Anna Karenina“ gefallen?
Ich habe einige Ballettversionen und alle Filme, die man bekommen kann, angesehen. Und ich habe diesen aufregenden Roman gelesen. Nach den ersten 100 Seiten war mir klar, er ist zu komplex für ein Ballett. Die Erzählperspektiven verändern sich ständig. Das Personal ist riesengroß, und trotzdem hat es mich unglaublich berührt. Dass eine Frau, die alles hat - einen Sohn, verheiratet ist, in einer wunderbaren, perfekten Gesellschaft lebt – plötzlich aufgrund einer Emotion – durch Liebe – vollkommen aus diesem Gefüge herausgeworfen wird, fand ich faszinierend. Der Boden unter ihr tut sich auf. Sie darf zum ersten Mal Liebe erleben und ist bereit, dafür alles herzugeben – sogar den Kontakt zum eigenen Sohn. Man bekommt manchmal eine richtige Antipathie gegen diese Figur, so krasse Sachen passieren. Eine Adaption dieses ungeheuren Gesellschaftsporträts auf 14 bis 15 Szenen herunter zu brechen, war dann ein ziemlicher Kraftakt von zwei Dramaturgen mit mir.
Wo genau liegen Ihre inhaltlichen Schwerpunkte?
Wir haben uns auf die drei Hauptpaare konzentriert: Anna, die sich aus der Institution Ehe befreien will, weil sie ihre Liebe leben möchte. Auf ihren Mann Karenin und Graf Wronski – also das Zerbrechen der Ehe. Dann sind da Dolly und Stiwa, die im ständigen Streit miteinander leben, aber die Ehe annehmen. Und Kitty und Lewin, die über große Umwege zueinander finden. So werden drei unterschiedliche Formen von Ehe gezeigt. Land und Stadt sind ein weiteres großes Thema. Genau wie der Zug: Tolstoi war ein Gegner der Eisenbahn, überhaupt der industriellen Revolution. In der Lewin-Figur hat er sich selbst geschildert.
Und wo verorten Sie ihre Hauptfigur szenisch?
Man ahnt Russland in dieser Produktion, spürt es. Und es werden auch drei russische Lieder von Rachmaninow live auf der Bühne gesungen. Samoware oder zeittypisch schwere Gobelins fallen weg. Ich bin kein Fan von Dekorationen, die einfach nur schön sind, und mag es, mich bei der Ausstattung auf das Notwendigste zu beschränken. Wir deuten vieles nur mit Choreografie und den Kostümen an. Wichtiger als der Plüsch drum herum sind die Figuren. Deshalb spielt diese Anna Karenina in einem alten verlassenen Ballsaal. Als Erinnerung. Es werden jeweils nur kleine Elemente einbezogen, die suggerieren, wo etwas stattfindet.
Sie erzählen die Handlung als Rückblende. Welche Bedeutung hat die Musik?
Sie verschafft mir die Möglichkeit, das Problem etwas zu mildern, diesen sprachgewaltigen Roman tänzerisch umzusetzen. Indem man musikalisch prägnant emotionale Akzente setzt. Zum Beispiel mit Kompositionen von Rachmaninow. Die „russische Seele“ – Schwermut, Melancholie und das besondere Verständnis der damaligen Zeit – nachzuempfinden, war mir extrem wichtig. Doch Rachmaninow allein für so einen Abend zu nehmen, wäre wohl zu oberflächlich, weil er einem starken Romantizismus verfallen ist. Zufällig bin ich dann auf Witold Lutoslawski gestoßen. Seine Musik hat eine ganz ähnliche Klanglichkeit, wirkt aber fast wie eine Dekonstruktion. Im großen Liebesakt zu Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2 kann jeder mitschwelgen. Dann bricht das Orchester auf einmal auseinander. Die Figuren bekommen eine Schärfung. Plötzlich sieht man das Drama, versteht, was die Frau durchmacht, als ihr klar wird, dass sie gerade ihren Mann betrogen, Ehe und Leben aufs Spiel gesetzt hat.
Welche Erfahrung haben Sie hier in München gemacht?
Es gibt hier eine Kompanie, die unglaublich begabt ist. Ein wenig Luft nach oben ist noch, was das Verständnis anbetrifft, warum man etwas so oder so artikuliert und wie man eine gewisse Selbstverantwortung als Tänzer übernimmt. Denn mehr noch als Tänzer liebe ich Künstler auf der Bühne - Menschen, die sich fragen, wie sie das, worum es geht, zum Ausdruck bringen können.
Premiere am Sonntag, 19. November, 19.30 Uhr. Weitere Vorstellungen am 25. November und 1. Dezember im Nationaltheater, Karten unter Telefon 21 85 19 20
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