Christian Gerhaher singt Schuberts "Winterreise"
Das herausragende Lied-Duo Christian Gerhaher und Gerold Huber mit Schuberts "Winterreise" im Nationaltheater
Im 13. Lied aus dem Zyklus „Winterreise“ kommt die Post. Doch der Erzähler bemerkt nur, dass für ihn selbst kein Brief dabei ist. Im 17. Lied wird eine nächtliche Dorfszene geschildert, das lyrische Ich fordert jedoch sogleich, dass die Hunde ihn fortbellen. Und der berühmte „Lindenbaum“ bringt ihn auf Suizidgedanken.
Der Dichter Wilhelm Müller kommt schnell und zuverlässig auf die literarische Person des eigenen Ich zu sprechen. Und der Komponist folgte ihm in dieser hemmungslosen Subjektivität. Zwar ist Franz Schuberts „Winterreise“ ein Meisterwerk der Liedgeschichte, doch diese Ichbezogenheit ist ein gewichtiges ästhetisches Problem. Man hat es irgendwann verstanden, dass es dem Ich schlecht geht.
Aus ärztlicher Sicht
Hans Hotter behalf sich hier seinerzeit damit, die Naturbeobachtungen für sich ganz unschuldig zu präsentieren. Christian Gerhaher und sein fester Begleiter Gerold Huber haben dieser scharfen Differenzierung ein tragfähiges eigenes Konzept entgegenzusetzen. Die Obsessionen singt Gerhaher fast naturergeben, er entschärft sie somit, ohne sie je zu verharmlosen, und macht sie somit für die Dauer eines Liederzyklus genießbar. Der so sanft artikulierende Bariton diagnostiziert förmlich – Gerhaher ist examinierter Arzt.
Ein Zufall? Nur an wenigen ausgewählten Punkten, etwa am Schluss von Nr. 7 „Auf dem Flusse“ oder in der Erkenntnis „Es ist nichts als der Winter“ der Nr. 18 „Der stürmische Morgen“ setzt Gerhaher sein Organ expressiv und laut ein, ohne freilich je die Gesangslinie zu durchbrechen.
Auch Gerold Huber versucht gar nicht erst, den holzschnittartigen Klaviersatz zu beleben, sondern begegnet den vielen statischen Momenten mit größter Konzentration. So werden Lieder wie Nr. 6 „Wasserflut“ und Nr. 10 „Rast“ zum Ereignis, weil Gerhaher und Huber die in sich kreisende Ausweglosigkeit im Nationaltheater schonungslos verwirklichen. Wo in der „Schönen Müllerin“ noch Trost im Tode erschien, herrscht hier die Depression des ewig leiernden Leierkastens. Eine ästhetisch so schön gewirkte wie präzise psychologisierende Deutung.
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