Choreografien von Laurent Chétouane und Wim Vandekeybus

Heftig bis charmant: Die Tanzwerkstatt Europa bietet vieles, vom mysteriösen Mann im Raum über einen Stripper bis zur Dragqueen, die ihre Zuschauer zum Bezahl-Sex auf der Bühne einlädt
von  Michael Stadler
"Removing" von Noé Soulier.
"Removing" von Noé Soulier. © Tanzwerkstatt

Unaufgeregter, unmerklicher kann man nicht auf die Bühne gehen, wie der junge Mann es im Schwere Reiter tut, das Publikum auf den Rängen und an zwei Seiten positioniert, so dass er dem Blick kaum entkommen kann.

Der Raum ist gnadenlos ausgeleuchtet, aber der Tänzer Mikael Marklund befindet sich in seiner eigenen seltsamen Blase, ist ganz präsent und doch irgendwie abwesend, gibt Einblick in ein Privates, das aber geheim und rätselhaft bleibt.
So hält er sich während der ganzen Performance – „JE(U) der buchstäblich verspielte Titel – in einem Dazwischen auf, das sich vermutlich gar nicht so leicht herstellen lässt. Der Schwede Marklund, der, so hört man, ganz ausgezeichnet tanzen kann, gibt sich völlig anti-virtuos, setzt mit seinen Bewegungen gerade keine starken Akzente.

Aber es ist auch nicht wurschtig-alltäglich, was er da macht, sei es, dass er rückwärts geht, die Füße klar abrollend, oder auf die Spitzen, ein Hauch von Ballett, aber eben doch überhaupt gar kein Ballett oder seine Gelenkigkeit testet, so deutlich wiederum, dass man es auch nicht mehr minimalistisch nennen kann.

Was der Franzose Laurent Chétouane, dessen Name allein so zieht, dass der Schwere Reiter locker ausverkauft ist, gemeinsam mit Mikael Marklund erarbeitet hat, ist eine Performance der Flüchtigkeit, bei der auch das Gefühl für den Raum, in dem noch zwei Stühle herumstehen, verloren geht.

Grenzen im Raum

Einmal berührt Marklund die hintere Wand, was die Wahrnehmungskoordinaten plötzlich verschiebt – aha, da gibt es doch eine Begrenzung, aber er hält sich dort nicht lange auf, so wie er insgesamt nur kurz bleibt. Nach einer halben Stunde verlässt er einfach den Raum, so wie er gekommen ist, und das Publikum sitzt verdutzt da, bis man begreift, dass die Veranstaltung zu Ende ist.

Als elitäre Frechheit, ein Nichts von Performance kann man diese Miniatur empfinden, ja, da ist ein Mann und er ist da und entzieht sich wieder, eben ein Existenzspiel, ein Mensch, so schlecht zu greifen wie eben jeder Mensch und, auch noch für den Eintrittspreis, so gar nicht abendfüllend.

Gleichzeitig öffnete sich urknallmäßig viel Raum und Zeit für den Rest-Abend, den einige verwirrt diskutierend (oder trinkend) verbrachten. Insofern haben Chétouane und Marklund erreicht, dass manche sich über die Kunst und die Erwartungen, die man an sie hat, unterhielten: intellektueller Quark oder ein kluges Spiel mit dem Ego der Zuschauer?

Als Uraufführung erweiterte „JE(U)“ jedenfalls die diesjährige Tanzwerkstatt Europa mit einer matt schillernden Farbe, während andere Performances sich in ihrem sportlichen Überdruck, ihrer Lust an der Verausgabung ähnelten – so, wie es das Publikum wohl von einem bunten, modernen Tanzabend erwartet. Auf die posige Männer-Power bei der Eröffnung mit Wim Vandekeybus und seiner Companie Ultima Vez („In Spite of Wishing of Dancing“) folgte der ebenfalls kraftvoll-maskuline, heiter mit dem Blick der Zuschauer spielende „Striptease“ des Katalanen Pere Faura, der auch noch „Bomberos Con Grandes Mangueras“ zeigte: Das Kreisen der Hüften, das nötig ist, um einen Hula-Hoop-Reifen vom Boden fern zu halten, brachte er in Analogie zu den Beckenbewegungen beim Geschlechtsverkehr, Pornostöhnen auf der Soundspur, aber auch Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, weil das Erhabene der Klassik, die Geigen heftig erregt, sich so schön mit dem Popo-Profanen reibt.

Was ist Fetttanztechnik?

Wie der Körper Energie aufnimmt, durch treibende Beats und die Dynamik der Gruppe, um sich dann auszupowern – das konnte man in der neuen Choreographie von Doris Uhlich erleben. Lotete sie mit „more than naked“, zu sehen im letzten Jahr, die Bewegungsmöglichkeiten des Körperfetts aus, brachte sie heuer in einem Workshop ihre „Fetttanztechnik“ auch Hobby-Tänzern bei. Und ließ in „Boom Bodies“ doch sehr durchtrainierte Körper zu Techno-Beats tanzen, so unermüdlich, dass sich allein beim Zuschauen ein Gefühl von Erschöpfung ergab.

Das ist insofern radikal, weil fast pausenlos gedanced wird, die Feier nicht enden will. Man spürt, wenn überhaupt etwas, eine Lust an dieser Vitalität, aber auch eine Leere dahinter: Wohin nur mit der ganzen Energie? Das Herz jedenfalls, das schlägt wild weiter, wenn eine Performerin ihre Brust am Ende zum Beat zucken lässt.

Ruhiger, analytischer dagegen „Removing“ von Noé Soulier: Sechs TänzerInnen erforschen, wie das ist, wenn Schläge, Kicks, Drehungen nicht voll durchgeführt werden - ein Labor der abgebrochenen, woanders hinfließenden Bewegungen, recht trocken, aber zum ernsten Zuschauen einladend.

Ein ganz besonderes Verhältnis hingegen erzeugte der bulgarische Choreograph und Performer Ivo Dimchev in seinem „P Project“: Einen Teil seiner Gage überließ er den Zuschauern - die durften auf die Bühne und wurden für vorgegebene Aktionen bezahlt, wobei Ivo den Erregungsgrad langsam steigerte, vom Stepptanz, den eine Zuschauerin beherzt hinlegte, über einen Kuss bis hin zum simulierten Geschlechtsverkehr. Zwei Frauen aus dem Publikum, aber mit Performance-Erfahrung, ließen sich für jeweils 250 Euro überreden, und irgendwie juckte der gespielte Sex auch nicht mehr, weil nackte Körper und alles Weitere sowieso überall, jederzeit im Netz zu finden ist.

Ivo jedenfalls, die gnadenlos manipulierende Dragqueen, hat uns vor Augen geführt, dass für Geld viel geht und Scham was fürs letzte Jahrhundert ist. Ziemlich böse, aber, verrückt genug, auch charmant und befreiend. Am Ende lässt er schon mal von zwei Zuschauerinnen einen Verriss und eine Lobeshymne zu der gerade geschehenen Performance schreiben, exponiert sich selbst, aber verletzen lässt sich dieser Ivo nicht: Wozu braucht es in unseren Anything-goes-Zeiten denn überhaupt noch so was wie Kritik?

Heute, 5.8., 20.30 Uhr, Muffathalle, „Who’s Next? – Open Stage“ – ausgewählte Workshop-TeilnehmerInnen zeigen ihre künstlerichen Beiträge, Tel. 54 81 81 81

 

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