"Candide" von Leonard Bernstein in der Reithalle - die AZ-Kritik

Grandios: Bernsteins Operette „Candide“ inszeniert von Adam Cooper für das Gärtnerplatztheater in der Reithalle
von  Michael Bastian Weiß

Alles Unglück beginnt in Westfalen. Danach geht es nach Lissabon, Paris, Cádiz, Buenos Aires, Montevideo, Eldorado, Surinam und Venedig. Die Szenenwechsel als rasant zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Sie sind eine Folge der philosophischen Aussage von Leonard Bernsteins Operette „Candide“ von 1956, die auf den satirischen Roman Voltaires zurückgeht. Der französische Autor hatte sich angesichts der schreienden Übel der Welt gegen die optimistische Lehre des deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz gewandt, nachdem unsere Welt die „beste aller möglichen Welten sei“.

Daher die Szenenwechsel: Gezeigt wird in einer Form der Gleichzeitigkeit, dass einem guten Menschen entgegen der philosophischen These überall Übel und Gewalt angetan werden. Doch wie das inszenieren?

Der Regisseur Adam Cooper, ein ehemaliger Ballettsolist, hatte die Königsidee, die vorbeifliegende Vielzahl von Orten quasi improvisieren zu lassen. Da genügen ein paar blaue Tücher, um den Ozean darzustellen, ein zierliches Bettmöbel, um das frivole Paris anzudeuten, und ein weiteres großes, weißes aufgespanntes Tuch, um zusammen mit einem Tau und ein paar Stühlen das Schiff zu evozieren, das die optimistischen Akteure in die Neue Welt bringen wird.

Alles kommt frisch und spontan daher. Cooper reagiert somit sehr ansprechend auf die derzeitige Situation des Staatstheaters am Gärtnerplatz, dessen Stammhaus jsanierungsbedingt noch eine Zeit geschlossen bleibt. Die Reithalle ist akustisch vollkommen ungenügend, und sie bietet auch keine wirkliche Spielfläche. Doch das, was da ist, wird von Cooper eben genutzt. Die in ihrer Sprunghaftigkeit absurde Handlung wird, gleichsam auf Zuruf, von den Handelnden selbst erzählt.

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Der Spielmacher ist hierbei Alexander Franzen, ein echter Sängerschauspieler, der sowohl die Leibniz-Parodie Dr. Pangloss als auch den servilen Cacambo köstlich verkörpert, hervorragend singt, und in seiner Allgegenwärtigkeit die gesamte Handlung trägt. Er ist mehr als nur einer der Spieler, er ist der philosophische Geist, der – ähnlich wie Don Alfonso in Mozarts „Così fan tutte“ – das Geschehen überhaupt mit unsichtbarer Hand führt.

Die Titelrolle des reinen Helden ist mit Gideon Poppe genial besetzt. Dieser Tenor singt so berückend, spielt so kindlich aufrichtig, dass selbst einem hartgesottenen Zuschauer das Herz brechen muss, wenn dieser Candide noch und noch einmal verladen wird. Cornelia Zink als Cunegonde ist in vorletzter Minute eingesprungen, doch sie findet sich ganz natürlich in diese Produktion ein und bezirzt mit einer zündenden Koloraturarie „Glitter and be gay“. Extrabravo! In verschiedenen Rollen singen hervorragend und verführerisch Erwin Belakowitsch und Juan Carlos Falcón, während Nazide Aylin als syphilitische Paquette und vor allem Dagmar Hellberg als „Old Lady“ zur leichten, komischen Atmosphäre beitragen.
Eigentlich müsste man sogar dem Komponisten danken, denn er hat endlich einmal den oft so schmählich vernachlässigten Chor in die Mittelpunkte dieser absurden Aktion gerückt. Der Gärtnerplatz-Chor macht seine Sache bravourös, singt in den zweifelnden Stellen schön leise und verbreitet in den nach außen wirkenden Szenen beste Laune.

Das Orchester des Gärtnerplatztheaters ist, den Umständen geschuldet, akustisch unvorteilhaft hinter der Szenerie positioniert. Und doch steuert es die Impulse bei, welche die so absurde Handlung vorantreiben. Marco Comin präsentiert sich hierbei als ein Dirigent, der die für eine Operette eigentlich viel zu vertrackten, unregelmäßigen Rhythmen, nonchalant bringt. Das Orchester ist präsent, aber sollte noch mehr im Zentrum der Aktion stehen. Wir hoffen, dass der Umbau des Gärtnerplatz-Theaters rasch über die Bühne geht. Dann könnten wir sagen: Alles Glück begann improvisiert in der Reithalle.

Gärtnerplatztheater in der Reithalle (Heßstraße 132), bis 3.1., 34 – 55 Euro, Telefon 21 85 19 60

 

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