Bejubelte Entdeckung: "Der Idiot" von Mieczyslaw Weinberg in Salzburg
Salzburg – Wenn irgendwo ein Komponist und ein nicht gerade leicht konsumierbares Werk begeistert wiederentdeckt werden, stellt sich der skeptische Beobachter angesichts solcher Jubelmeldungen womöglich die Frage: Wo ist der Pferdefuß? Es muss doch einen Grund geben, wieso Mieczyslaw Weinbergs Oper "Der Idiot" mit 27-jähriger Verspätung erst 2013 komplett uraufgeführt und danach auch nur noch ein weiteres Mal neu einstudiert wurde, ehe sie nun bei den Salzburger Festspielen geradezu triumphal gefeiert wurde.

Gründe gibt es. Der 1919 in Warschau geborene und 1996 in Moskau verstorbene Komponist war zwar zeitlebens durchaus erfolgreich. Seine Filmmusiken kennt jedes in der ehemaligen Sowjetunion aufgewachsene Kind. Dass "Der Idiot" aber erst jetzt entdeckt wird, hat mit dem ungünstigen Zeitpunkt der Entstehung am Ende der Gorbatschow-Ära zu tun: Damals hatten die Leute andere Sorgen wie die Vertonung eines Romans von Fjodor Dostojewski, dem Verächter alles Westlichen. Die übrige musikalischen Welt interessierte sich damals mehr für Komponisten, die gegen politische Widerstände an die europäischen Avantgarden anknüpften und nicht für den altmeisterlich schreibenden Weinberg. Mit wachsendem Abstand erweist sich die düstere Zeitlosigkeit seiner Musik allerdings als Stärke.
Melancholische Herbheit
Die ariosen, konservativen Idealen huldigenden Gesangspartien unterlegte der Komponist mit düster brütenden Streicherkantilenen, deren Schönheit die Wiener Philharmoniker unter Mirga Gražinyte-Tyla auskosten, ohne ihre Herbheit zu verleugnen. Das kann - Bereitwilligkeit beim Hörer vorausgesetzt - einen Sog erzeugen, der einen in Dostojewskis überspannte Welt hineinzieht. Aber gleichzeitig hält ein ruhiges Grundtempo die aufgeregten Figuren auf Distanz, was Genusshörer eher abschrecken dürfte.
Der hier Berichtende fühlte sich in der ersten Hälfte wie in einer russischen Version von "Pelléas et Mélisande". Anschließend las er überrascht im Programmheft, dass auch die Dirigentin Parallelen zu Claude Debussys Oper zieht. Die oft konstatierte Nähe zu Schostakowitschs Musik spielt hier eine geringere Rolle.

Traditionelle Opernhaftigkeit im Sinn effektvoll zugespitzter Szenen sollte man also nicht erwarten. Seelische Zusammenbrüche vollziehen sich bei Weinberg leise, bisweilen nur in einem Klarinettensolo. Auf die bisweilen tragikomische Seite Dostojewskis geht die Musik kaum ein, ihre Grundstimmung bleibt auch auf wilden Partys durchwegs melancholisch.
Endlich mal wieder ein guter Warlikowski
Die Inszenierung des erst kürzlich an dieser Stelle für György Ligetis "Le Grand Macabre" im Nationaltheater heftig gescholtenen Krzysztof Warlikowski hilft dem Zuschauer, das Dickicht der Handlung zu lichten: "Nastassja, 25 Jahre", heißt es am Anfang der Aufführung in einer Projektion: "Sie verlässt ihn. Er tötet sie".
Das fasst die äußere Handlung des Romans kürzestmöglich zusammen. Weinbergs Version konzentriert sich auf das Menschliche zwischen dem Humanisten Myschkin und der gefallenen Schönheit Nastassja, die sich nicht retten lassen will, weil sie dem triebhaften Rogoschin verfallen ist.

Warlkowski beginnt rückblendenhaft mit dem Schluss des Romans: Er zeigt die beiden Rivalen im Bett neben der Toten liegend. Doch das bleibt ein Einzelfall, denn die respektvolle Verdichtung des Romans liefert nur selten die Vorlange für kraftvolle szenische Bilder. Die meiste Zeit wird geredet, und nicht nur Dostojewski-Verächter dürften aufstöhnen, wenn einem die Übertitel moralisierende Sentenzen bisweilen in Großbuchstaben einhämmern, anstatt etwas zu zeigen.
Ganz ohne Jesus geht's nicht
Das macht den musikalisch fraglos aus dem russischen Bühnenschaffen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunders herausragenden "Idioten" zu einer Oper für Opernverächter. Erfreulicherweise verzichtete Weinberg darauf, Dostojewskis Messianismus an der hörbaren Oberfläche zu illustrieren. Myschkins Musik ist zwar heller und bläserbetonter, Anspielungen auf Geistliches bleiben aber aus. Die Kreuz-Symbolik in den Harmonien erschließt sich nur dem Leser der Partitur.

Allerdings wollte Warlikowski nicht auf den toten Christus des Malers Holbein aus dem Roman verzichten: Er wird sehr demonstrativ mit dem Prinzen nach seinem emotionalen Zusammenbruch in Beziehung gesetzt. Sonst aber ersetzt die Inszenierung Metaphysik durch physikalische Formeln auf der Tafel eines Hörsaals. Die üblichen Warlikowski-Manierismen fehlen: Lieblingsfilme werden nicht assoziativ in Ausschnitten vorgeführt, Video-Projektionen verdeutlichen die ausschließlich ein Kammerspiel, das auf der Riesenbühne der Felsenreitschule überraschend gut funktioniert.
Unsympathische Figuren
Einen weiteren Pferdefuß hat der "Idiot" aber doch: Wer nicht schon beim Lesen des Romans eine Beziehung zu den Figuren entwickelt hat, wird das beim Besuch der Oper nicht nachholen können. Auf der Bühne erweisen sie sich als Papiertiger, weil sie sich kaum entwickeln. Man würde den unsympathischen Müßiggängern des 19. Jahrhunderts gerne raten, ihren lieben langen Tag nicht nur mit sich selbst zu verbringen. Und, Hand auf's Herz: Gibt es in der klassischen und modernen Operngeschichte noch viel aufregendere Femmes Fatales wie Nastassja und spannendere Triebtäter wie Rogoschin?

Das müssen in der Salzburger Aufführung die Sänger reparieren. Und sie schaffen es. Bogdan Volkov vereint als Myschkin einen lyrischen mit einem dramatischen Tenor und einer Charakterstimme. Es gelingt ihm auch, die Kunstfigur des guten Menschen als Bühnenfigur in ihrer Schlichtheit glaubwürdig zu spielen. Seinen Monolog im fünften Bild, der auf einen vom Orchester so sparsam wie nachdrücklich dargestellten epileptische Anfall folgt, wird man nicht so schnell vergessen.
Unbedingt hörenswert
Der scharfe und zugleich sinnliche Sopran von Ausrine Stundyte passt bestens zur Nastassja, gleiches gilt für den dunklen Bariton von Vladislaw Suliminsky und die Rolle des Rogischin. Clive Bayley und Pavol Breslik holen aus kleinen Partien das Letzte heraus. Die Dirigentin und der Regisseur haben sie zu einem optimalen Ensemble geschweißt.
Das alles ist auch bei einer Reserviertheit gegenüber dem Stoff unbedingt sehens- und hörenswert. Das in Salzburg bisweilen auf leichten Genuss gestimmte Publikum der Premiere reagierte mit Recht enthusiastisch. Denn so sehr es sich die Festspiele mit Oper bisweilen zu leicht machen: Diese Aufführung reiht sich nicht nur würdig unter andere Neuentdeckungen der letzten Jahre wie Enescus "Oedipe" und Martinus "Griechische Passion" ein, sondern übertrifft sie beträchtlich.
Felsenreitschule, wieder am 15., 18. und 23. August, Restkarten unter salzburgfestival.at. Eine Aufzeichnung ist am 23. August um 20 Uhr bei medici.tv und Stage+ zu sehen.
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