Beethovens "Fidelio" analog und digital bei "Prozessor 1"
Die Installation "Prozessor 1" gibt eine Ahnung davon, wie Livestreams oder Opern-DVDs in naher Zukunft aussehen könnten
Bilokalität: Der Traum an zwei Orten gleichzeitig live dabei zu sein! Vor diese Möglichkeit stellt die Staatsoper jetzt den Zuschauer. Einmal klassisch im großen Zuschauerraum der Oper oder mit 100 Gleichgesinnten und einem Streichquartett auf der Großen Probebühne, gleich nebenan. Aber auch hier ist man live dabei auf der Opernbühne und im Orchestergraben übertragen auf Tablets: Hier erscheint die Dirigentin Simone Young. Sie gibt den Einsatz zu Beethovens Leonoren-Ouvertüre Nr. 3. Aber nicht nur die Musiker im Graben des Nationaltheaters folgen ihr, sondern auch hier im Proberaum unser Streichquartett, das neben den Noten auch Smartphones auf den Pulten liegen hat.
Während über 2000 Zuschauer also im Nationaltheater auf bewährt-analogem Weg Calixto Bieitos Inszenierung von Beethovens „Fidelio“ auf sich wirken lassen, verfolgt beim Projekt „Prozessor 1“ des Musiktheaterkollektivs Agora eine kleinere Gruppe Musiker und Zuschauer die gleiche Vorstellung digital. Und zwar aus ungewöhnlicher Perspektive: vermittelt über mehrere Kameras auf der Bühne, zwischen denen der Zuschauer selbst hin- und herschalten kann.
Gedanken schweifen und bekommen noch Bilder geliefert
Was bringt das? Mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Auch wer im Zuschauerraum sitzt, lässt ja Gedanken schweifen und verfolgt nicht immer mit voller Konzentration das Geschehen. „Prozessor 1“ liefert außerdem Zusatzangebote: Die Musiker des Quartetts intervenieren live. Und wer auf der Probebühne herumgeht, entdeckt Projektionen des Textbuchs und zum geschichtlichen Kontext von Beethovens „Fidelio“ in einer Zeit zwischen Revolution und Restauration. Auf Bildschirmen laufen historische Inszenierungen. Sie laden zum Vergleich ein – ähnlich, wie manchem Zuschauer eine ältere Aufführung durch den Kopf geht.
„Prozessor 1“ versteht sich als künstlerische Theater-Installation. Aber das Projekt ist nicht nur Kunst über Kunst. Es lässt sich auch als Vision künftiger, interaktiver Live-Streams und Opern-DVDs verstehen, bei denen die Kamera nicht mehr vom Bildregisseur autoritär festgelegt wird. Denn was spricht außer der Kapazität von Datenleitungen und Silberscheiben eigentlich dagegen, den Zuschauer frei zwischen den Kameras und anderen Informationen hin-und herzappen zu lassen?
Und engagierte Fans dürften wie beim „Tatort“ durchaus einmal dem Bedürfnis nachgehen, mit Gleichgesinnten auf sozialen Medien über die Vorstellung zu debattieren. „Prozessor 1“ macht bei den Untertiteln mit Twitter-Hashtags Vorschläge dafür.
„Fidelio“ ist eine robuste Oper, die ein solches Experiment aushält. Sänger wie Günther Groissböck (Rocco) und Hanna-Elisabeth Müller (Marzelline) oder John Lundgren (Pizarro) vertragen die indiskrete Nah-Perspektive. Klaus Florian Vogts Florestan lockte den Berichterstatter nach der Pause in den Zuschauerraum. Er sang die Arie eher steif und wenig nuanciert. Das Herz dieser Aufführung bleibt - auf dem Tablet und im Zuschauerraum - die bewegende Anja Kampe als Leonore. Sie ist eine, nein: die einzige würdige Nachfolgerin der legendären Hildegard Behrens in dieser schwierigen Rolle.
„Prozessor I“, am 4.10, 19 Uhr und am Do., 6.10., 19.30 Uhr, Nationaltheater, Große Probebühne, 15 Euro. Für die „Fidelio“-Vorstellungen in der Staatsoper gibt es Restkarten