Barbara Horvath über den Kapitän Ahab in "Moby Dick"

Zusammen mit Intendant Andreas Beck ist Barbara Horvath 2015 vom Schauspielhaus Wien ans Theater Basel gewechselt, 2019 dann ans Bayerische Staatsschauspiel. Ihr Rollenspektrum ist auch in München beeindruckend groß, von der Seherin Kassandra in Ulrich Rasches "Agamemnon"-Inszenierung bis hin zur Baronin von Reindl in Stefan Bachmanns "Erfolg". Jetzt setzt Stefan Pucher Herman Melvilles "Moby Dick" im Residenztheater in Szene, mit Barbara Horvath als Kapitän Ahab.
AZ: Frau Horvath, "Moby Dick" handelt nicht nur von der Jagd auf einen Wal, sondern ist auch hinsichtlich seines Seitenumfangs riesig. Haben Sie das Buch in seiner Gänze gelesen?
BARBARA HORVATH: Natürlich! Ich kann nicht in einer Romanadaption mitspielen, wenn ich das Buch vorher nicht gelesen habe. Ich denke, die Jagd auf den Wal gibt zwar der Geschichte ihren Drive, aber Melville geht es in seinem Buch um viel mehr: Er möchte den Reichtum der Welt feiern, die Fülle und Vielfalt, die sich auf ihr finden lässt. Ich mag das Buch sehr gerne, weil es sich großzügig mit den einfachsten Dingen auseinandersetzt - bis hin zu den großen philosophischen Fragen des Lebens.
In ihrer Stückfassung haben Malte Ubenauf, Stefan Pucher und Ewald Palmetshofer recht viel von den verschiedenen Exkursen beibehalten. Droht das nicht, auf der Bühne langweilig zu werden?
Wer Interesse daran hat, etwas über die Welt zu erfahren, wird sich bestimmt nicht langweilen. Außerdem ist die Inszenierung in eine tolle Bühne eingebettet, und wir bilden ein großartiges Team.
Es dauert eine Weile, bis Ahab in Erscheinung tritt. Nachts taucht er alleine an Bord auf und spricht zu einem abgetrennten Walschädel: "Sprich, mächtiges Haupt, und sag mir, welches Geheimnis du verbirgst.". Womit gleich ein zentraler Antrieb von ihm zur Sprache kommt: Er ist ein Sinnsucher…
…der verstehen möchte, wie die Welt funktioniert. Er sagt später auch einmal, dass alles, was man sieht, bloß eine Maske sei. Was sich dahinter verbirgt, dem möchte er auf die Spur kommen.
Gleichzeitig ist er von Rachegefühlen angetrieben: Moby Dick hat ihm bei einer ersten Begegnung ein Bein abgerissen. Dafür möchte Ahab sich nun revanchieren.
Mir wäre als Rache als Hauptmotiv zu schmal. Ich habe das Gefühl, dass es in dem Roman nicht nur um dieses konkrete Erlebnis geht, sondern um ein allgemeines Gefühl der Versehrtheit. Das Universum kann uns gegenüber manchmal extrem gleichgültig und kalt erscheinen. Ob ich existiere oder nicht, mag für mein direktes Umfeld wichtig sein, aber in dreißig, vierzig Jahren ist das dahin. Dass man einzigartig, aber letztlich bedeutungslos ist - dieser Widerspruch kränkt Ahab, habe ich den Eindruck.
Das klingt nach einer narzisstischen Kränkung. Ahab projiziert sich auch in alle möglichen Dinge hinein, in einen Turm, einen Vulkan, einen Vogel - "Alle sind sie Ahab", sagt er.
Als ich die erste Spielfassung durchlas, kamen mir solche Passagen ziemlich pathetisch vor. Aber Stefan Pucher hat mich auf eine andere Sichtweise gebracht. Wenn ich mir ein Bild anschaue, wenn ich ein Musikstück höre - was das jeweils in mir auslöst, hat doch immer sehr viel mit mir selbst zu tun. Wenn ich ein Buch lese, setze ich das Gelesene immer zu mir selbst in Bezug. Wenn ich über etwas spreche, erzähle ich mit dem, was ich sage, zwangsläufig immer auch etwa über mich. Das ist nicht unbedingt narzisstisch, sondern liegt in der Natur des Menschen.
Das fehlende Bein von Ahab wurde durch ein künstliches Bein, gefertigt aus einem Walknochen, ersetzt. Tragen Sie eine Prothese?
Nein. Es wäre auf der Bühne schwer möglich, dass ich mich die ganze Zeit mit einer Prothese bewege, daher spiele ich alles über den Körper. Es ging Melville wohl auch darum, dass er effektvoll beschreiben kann, wie die Mannschaft zwar Ahab lange Zeit nicht zu Gesicht bekommt, aber nachts das unheilvolle "Tok tok tok" seines Beins hören kann. Und wie gesagt, es geht eher um eine allgemeine Verletztheit. Ich musste dabei an meine eigene Kindheit denken: Ich bin in einem Dorf im Burgenland aufgewachsen, da gab es einige alte, kriegsversehrte Männer, denen ein Arm oder Bein gefehlt hat. Ahab erscheint mir auch als jemand, der sich im Krieg mit etwas befindet.
Ahab sagt über sich selbst: "Ich bin der irregewordene Irrsinn". Sein Antagonist an Bord, der erste Steuermann Starbuck, durchschaut hingegen, dass Ahab die Mannschaft strategisch klug bei Laune hält und für seine Zwecke instrumentalisiert. Wie verrückt ist Ahab?
Das kann ich selbst so nicht beantworten, das müssen mir die Zuschauer spiegeln. Aber ich denke, dass "verrückt" zu sein nicht unbedingt bedeutet, dass man nicht rational denken kann. Mich hat überrascht, dass Ahab zu Hause eine junge Frau und ein Kind hat. Er sagt auch: Ich habe meine Witwe geheiratet. Ihm ist klar, dass er nicht mehr zu ihnen zurückkehren wird, weil er an einem Punkt angekommen ist, an dem es kein Zurück mehr gibt. Er will seine Mission durchziehen; koste es, was es wolle. Insofern ist er eine sehr entschlossene, radikalisierte Figur, die sich von ihrem Ziel nicht abbringen lässt.

Neben Starbuck gibt es eine zweite Figur, mit der Ahab näheren Kontakt hat: den Kabinenjungen Pip, für den er fast schon väterliche Gefühle zu entwickeln scheint.
Es gibt diesen Moment, wenn Pip über Bord fällt und die Mannschaft eine Wal-Leine kappen muss, um ihn wieder aufs Schiff zu ziehen. Melville beschreibt sehr ergreifend dieses Gefühl der Verlassenheit, das einen überfällt, wenn man im Meer schwimmt und rund um einen herum nichts ist. Pip wird über diesen Vorfall verrückt, in ihm erkennt Ahab sich ein bisschen wieder. Er sagt zu Pip: "Du bist mir treu, mein Junge, wie seinem Mittelpunkt der Kreis". Womit er aber auch feststellt, dass beide stets voneinander getrennt bleiben werden. Tatsächlich glaube ich nicht, dass Ahab eine komplett mitleidslose Figur ist.
Gegen Ende träumt er von Särgen, vom Sterben auf hoher See. Ist die Angst vor dem Tod eine weitere Antriebsfeder?
Ich denke, Ahab möchte nicht sterben, er möchte aber auch nicht sein Leben in dieser Form weiterleben. Schon beim Lesen des Romans hat mich eine Szene stark berührt, in der er davon spricht, dass er sich sehr alt fühlt. Zuvor hat diese Figur für mich in ihrem Zerstörungswillen etwas sehr Vitales gehabt. Was ja wie ein Widerspruch klingt: dass man etwas unbedingt kaputtmachen will und sich dabei ungemein lebendig fühlt. Später aber schießt ihm das Bewusstsein ein, dass er alt geworden ist, was nicht nur körperlich gemeint ist: Er merkt, dass er mittlerweile zur Gattung der Dinosaurier gehört.
In John Hustons Filmversion von 1956 wurde er von Gregory Peck verkörpert, es gibt zudem Adaptionen mit Patrick Stewart oder John Hurt als Ahab. Haben Sie einen der Filme gesehen?
Ich habe mal an einem Nachmittag Arte eingeschaltet, da lief der Film mit Gregory Peck und ich bin dran hängen geblieben, aber das ist schon einige Zeit her. Als ich für die Rolle besetzt wurde, war mir schnell klar, dass ich eine ganz eigene Figur erschaffen muss, eine mit einer gewissen Theatralität. Melville verwendet in seinem Roman verschiedene Textformen; man hat den Eindruck, dass er sich bei Ahab im Tonfall und Rhythmus an Shakespeare orientiert. Diese Figur ist von Grund auf überhöht und theatral. Insofern würde ich mich auch gar nicht an den Filmen orientieren wollen.
Ahabs Wut, seine Obsession könnte einem "männlich" vorkommen. Selbst wenn Cross-Gender-Besetzungen gang und gäbe sind - haben Sie sich gewundert, als Sie für diese Rolle besetzt wurden?
Nein, ich habe eher sofort darüber nachgedacht, wie ich das spielen soll. Ich nehme an, ich wurde für diese Rolle besetzt, um dem Bild eines verbitterten alten Mannes zu entgehen. Historisch gesehen ist der Schiffskosmos ein rein männlicher gewesen - abgesehen davon, dass es Männer gab, die ihre Frauen mit an Bord geschmuggelt haben oder in der Südsee mit Frauen gehandelt haben. Ich habe aber den Eindruck, dass dieser Männerkosmos gar nicht das ist, was Stefan Pucher interessiert. Dadurch, dass in seiner Inszenierung Frauen mit an Bord sind, setzt er einen anderen, universelleren Fokus. Und ich glaube übrigens nicht, dass Obsessionen und Rachsucht auf Männer beschränkt sind.

Man könnte Ahab als Regisseur begreifen: jemand, der eine Mannschaft zu einem bestimmten Ziel führen will und sie dafür motiviert - er nagelt zum Beispiel eine Gold-Dublone an den Mast, für denjenigen, der Moby Dick als Erstes entdeckt. Wie war die Zusammenarbeit mit Stefan Pucher?
Spannend, weil ich zuvor noch nicht mit ihm gearbeitet habe. Gerade, wenn man eine größere Rolle spielt, ist es wichtig, herauszufinden, wie der andere tickt. Die Arbeitsatmosphäre bei ihm ist entspannt und lustig; gleichzeitig hat man das Gefühl, dass man jederzeit alles Mögliche ansprechen kann.
Ist Theater nicht letztlich immer die Jagd nach…
…einer Erkenntnis? Schon. Im Idealfall ist Theater die Suche nach einem gemeinsamen künstlerischen Ausdruck. Ich finde es immer wieder berührend, wie sich die Kräfte über alle Gewerke hinweg bündeln und man zusammen eine Vision verfolgt.
Und natürlich hofft man, dass man den Wal am Ende erlegt. Dass das Schiff nicht sinkt.
Naja, in dem Roman überlebt ja zumindest eine Figur. Die totale Apokalypse bleibt aus.
Für die Premiere am 19. April um 19.30 Uhr, gibt es Restkarten, nächste Aufführungen: 22. und 26. April, Karten online und unter Telefon 2185 1940