Ballett am Gärtnerplatztheater: Respekt für den Planeten

Geduld und Beharrlichkeit brauchte es, um Ina Christel Johannessen endlich nach München zu holen. Die norwegische Choreografin zählt zu den führenden und innovativsten Tanzschaffenden Skandinaviens. Weil sie als Kind zu expressiv-dramatisch war, schickte man sie einst vom Kunstturnen zum Tanzen.
Inhalte mit Bewegungen transportieren
"Ich wollte früh choreografieren und wurde damals als einzige in allen möglichen relevanten Fächer dafür ausgebildet - auch am Klavier, in Tanznotation und dem Lesen von Partituren". Bis heute geht es Johannessen darum, mittels Bewegungen Inhalte zu transportieren - auf unterschiedlichste Art und Weise.
Ein Großteil ihrer Arbeit als Gastchoreografin besteht deshalb darin, Tänzern die enorme Ausdrucksskala noch so kleiner Gesten, Schwünge oder Blicke bewusst zu machen. Im nächsten Schritt werden aus der gemeinsam entwickelten Körpersprache starke Bilder geformt, die am Ende mehr als nur eine simple, musikalisch schön dahinfließende Geschichte erzählen sollen.
Auftritte ihrer 1996 gegründeten Kompanie Zero Visibility Corp sorgen weltweit für Begeisterung. Hauptgrund dafür mag die eindrückliche Theatralität sein, die ist Johannessen auch in der Zusammenarbeit mit anderen Ensembles stets wichtig ist.
Zweimal sagte die Künstlerin dem Gärtnerplatztheater ab
Eigentlich wollte das Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz, das im Anschluss an die Vorstellung am 25. Juni für seine beeindruckende stilistische Vielfalt mit dem Tanzpreis der Stadt München ausgezeichnet werden wird, schon längst eine Arbeit Johannessens in der Reihe "Minutemade" vorstellen. Doch die Künstlerin sagte zweimal ab. Das "Minutemade"-Konzept sei ja eine gute Idee, mit ihrer Arbeitsweise allerdings nicht vereinbar.

Überraschungen haben hier Tradition
Den dritten Anruf bekam sie von Ballettchef Karl Alfred Schreiner persönlich. Dass der Tanzspartenleiter am Gärtnerplatz Publikum wie Choreografen gern überrascht, hat Tradition. Johannessen bot er gleich einen ganzen eigenen Abend an. Shakespeares "King Lear" sollte es ursprünglich sein.
Aber seine Wunschkandidatin - menschlich alles andere als eine Diva - lehnte erneut ab. Zu grausam sei das Werk, da brächten sich alle nur gegenseitig um.
"Mein Kerninteresse liegt in der Umwelt"
"Ich hätte gar nicht gewusst, wie man sich diesem kruden Stoff heutzutage nähern könnte. Mein Kerninteresse liegt in der Umwelt, in den globalen Veränderungen des Klimas und der Natur." Johannessen weiß eben genau, was sie kann und ob beziehungsweise warum sie einen Auftrag annehmen will. Schließlich muss ihre Arbeit am Ende die Zuschauer überzeugen.
Damit das gelingt, konzentriert sie sich lediglich auf Inhalte, die sie selbst interessieren und beschäftigen. Als Schreiner ihr dann Shakespeares "Der Sturm" vorschlug, war man sich schnell einig.
Lebensbedrohende Krisen als Thema
Statt Handlungsstränge abzuarbeiten oder Charaktere nachzuzeichnen, greift Johannessen hier grundlegende dramatische Themenkomplexe wie das Verhalten in lebensbedrohenden Krisen auf. Ein Handlungsballett im herkömmlichen Sinn mit erkennbarem Personenarsenal darf man bei der Uraufführung ihres "Sturms" nicht erwarten.
Sich vor dem Besuch mit dem Plot von Shakespeares Zaubermärchen vertraut zu machen, empfiehlt die Choreografin dennoch. "Ich wollte Chaos kreieren. Tatsächlich ist alles bis zu den live auf der Bühne in die Inszenierung integrierten Musikern sehr präzise durchorganisiert. Immer wieder versuchen Gruppen, irgendwo hin zu gelangen. Dabei schleppen sie wie Migranten alle möglichen Utensilien und eine Mutter ihr Kind mit sich herum."
Behutsamer Umgang mit der literarischen Vorlage
Der Sturm im "Sturm" wird bei Johannessen ein Mittel zum Zweck. Sie möchte uns die Abgründe der unachtsamen Vernichtung unseres Planeten vor Augen führen und künstlerisch einen Weg aufzeigen, der hoffnungsvoll aus der bitteren Situation herausführt und hilft, die Natur zu retten.
Im Gegensatz zu den beiden stark polarisierenden Isländerinnen Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir, die 2018 für Schreiner "Romeo und Julia" krass neu deuteten, geht Johannessen insgesamt wesentlich behutsamer mit der literarischen Vorlage um.
"Für mich waren von Anfang an zwei Aspekte wichtig: der Sturm - das heißt die unvorhersehbar zerstörerischen Stürme und Hurrikans ebenso wie innere, emotionale Stürme - und der Schlaf. Im Stück, das aus meiner Sicht viel farcenhafte und schwer verständliche Szenen besitzt, in die sich unheimlich viel hineininterpretieren lässt, gibt es zahlreiche Momente, in denen Schlaf eine große Rolle spielt. Das erinnert mich an uns, die wir - vergleichbar Träumenden - an den Bequemlichkeiten und dem Luxus unserer Konsumgesellschaft festhalten. Obwohl wir alle um die Klimakrise wissen, schieben wir das notwendige Uns-Darum-Kümmern stetig weiter hinaus."
Eine Tanzadaption zwischen Dürre und Überflutungen
Mittlerweile steht die Szenerie auf der Bühne des Gärtnerplatztheaters - dominiert von einem riesigen Steg: Prosperos abgelegene Insel. Die Menschen, die eine Sturmflut dort stranden lässt, haben auf den ersten Blick wenig gemein mit jenen Figuren, die Shakespeare in seinem womöglich letzten Stück nach viel Hass eine Konfliktlösung in der Versöhnung finden lässt. Johannessen siedelt ihre Tanzadaption im Problemraum des Klimawandels zwischen Dürre und Überflutungen an.
Nachhaltige Figuren
Ihre Protagonisten tragen abgelegte Kleider und hantieren mit recyclebarem Plastik und nachhaltigen, abbaubaren Materialien. Letztlich erzählen sie in eineinhalb Stunden "ein ganzes Paket oder eine Kakophonie an Geschichten". Je besser jemand die Vorlage kennt, umso mehr an figürlichen Verhaltenseigenschaften des Luftgeists Ariel, von Prospero, der als Herzog vom eigenen Bruder vertrieben wurde, oder von dessen Tochter Miranda sind zu finden.
Staatstheater am Gärtnerplatz, 25. (Premiere), 28. Mai, 1., 12., 25. Juni. Karten unter 089 2185 1960 oder www.gärtnerplatztheater.de