Auftakt im neuen Volkstheater: Erbarmungslos pink
Wer sich in den vergangenen 38 Jahren an den diskreten Charme des Provisorischen gewöhnt hat, muss im Neubau des Münchner Volkstheaters nicht fremdeln. Der Stuttgarter Architekt Arno Lederer hatte sich in der Sporthalle des Bayerischen Fußballverbands, das 1983 zum Theater umgerüstet worden war, aufmerksam umgesehen und im neuen Haus für das eine oder andere Déjà-vu-Erlebnis gesorgt. Mit 600 Plätzen ist die Hauptbühne auch ähnlich dimensioniert wie am alten Ort.
Was er aber sogar im 1.200-seitigen Bauantrag vermisst habe, sei der Auftrag zu Schönheit, erklärte Lederer bei der Eröffnung. Diese Schönheit wolle er den Münchnern nun schenken. Etwas kokett freute sich Oberbürgermeister Dieter Reiter darüber, dass man sich fast daran gewöhnen könne, jeden Freitag einen neuen Kulturtempel zu eröffnen. Zunächst hatte die Freie Szene rechts der Dachauer Straße ein schmuckes Domizil bekommen, dann folgte die Isarphilharmonie gegenüber dem Heizkraftwerk Süd. Mit der Eröffnung des Volkstheater-Neubaus reiße diese ruhmreiche Reihe allerdings ab.
Alles, worauf Theaterchef Christian Stückl, wenn er im eigenen Haus inszenierte, verzichten musste, steht ab sofort zur Verfügung: Eine richtige Schauspielbühne mit Seitenbühnen und einer Hinterbühne sowie ein Bühnenturm, in dessen geräumigen Schnürboden auch großformatige Kulissen verschwinden können. Besonders stolz sind der Intendant und sein Oberbürgermeister darauf, nicht nur den Zeitplan präzise eingehalten zu haben, sondern mit 131 Millionen Euro sogar der Kostenrahmen leicht unterboten wurde.
München habe sich "dazu bekannt, dass Kultur jeden Euro Investition wert ist". Spätestens, wenn Christian Stückl mit dem Kulturreferat die künftigen kommunalen Subventionen aushandeln muss, wissen wir, ob das ernst gemeint ist. Zwar wurde für das größere Haus mit seinem stark angewachsenen Personal der Etat von zuletzt zehn auf aktuell 15 Millionen erhöht, aber im AZ-Interview hatte er unmissverständlich erklärt: "In der nächsten Spielzeit muss es mehr sein".
Ein pinkes Statement im Volkstheater
Das größte Problem, das noch kurz vor der Eröffnungspremiere gelöst werden musste, war die Drehbühne. Sie ist funkgesteuert, aber "wir sind hier in einem Funkloch", frotzelte der Theaterchef. Aber seine erste Inszenierung am neuen Ort wäre nicht die, wie sie jetzt zu sehen ist, würde die Drehbühne nicht ausdauernd rotieren. Für die Einweihung seines neuen Schauspielhauses hatte er sich für Shakespeares Zeitgenossen Christopher Marlowe entschieden. Der schrieb mit "Edward II." nicht nur eine Historie wie sein Konkurrent vom Globe-Theatre, sondern spielte schon mit Psychologie. Unter Experten wird nicht ausgeschlossen, dass Königin Isabella ein Vorbild sein könnte für Shakespeares später geschriebenen "Richard III."

Vor allem aber hat niemand zuvor die Homosexualität so explizit zum Thema gemacht. Christian Stückl setzt ein erbarmungslos in Pink getauchtes Statement für die gleichgeschlechtliche Liebe auf die von Hausausstatter Stefan Hageneier karg, aber mit nobler Dezenz möblierten Bühne.
Schon im ersten Bild macht er klar, dass Schwule nicht dazu gehören. Wie zu einem Foto ist der Hofstaat aufgestellt: Isabella, die Gemahlin von König Edward (Liv Stapelfeldt), dessen Bruder Edmund, der Graf von Kent (Lorenz Hochhuth), der Erzbischof von Canterbury (Pascal Fligg) sowie die Grafen Mortimer (Silan Breiding) und Lancaster (Janek Baudrisch). Nur König Edward (Jan Meeno Jürgens) fehlt.
Stückls Inszenierung kommt ohne Gemetzel aus
Seine Majestät trägt eine Frisur wie einst der mutmaßlich der Homophilie zugeneigte "Kini" Ludwig II. und vergnügt sich unterdessen in der royalen Badewanne mit Gaveston (Alexandros Koukoulis), dem "verführerischen Franzosen". Beide tummeln sich mit heißen Küssen im Schaumbad. Danach wird das Klima bei Hofe frostig, denn nicht nur der Erzbischof empört sich über die "widernatürliche Geilheit". Auch andere sehen eine Gefahr für die Staatsraison und die Königin wittert die Gelegenheit, den Sohn als Edward III. (Anton Sommer) schon im Kindesalter als ihre Marionette zu inthronisieren.
Stückls Inszenierung kommt trotz dieser Konfrontation zwischen erotischer Lust und politischer Macht ohne das Gemetzel aus, das durchaus in Marlowes Tragödie steckt. Mordinstrumente sind die bischöfliche Stola und ein zierlicher Dolch, mit dem die Königin unauffällig, aber effektiv umzugehen versteht. Den oft schön anzuschauenden Bildern in Pink und Schwarz stehen immer wieder buchstäblich blutleere Dialoge in statischen Arrangements gegenüber.
Die schlanke 110 Minuten dauernde Inszenierung überrascht damit, völlig unspektakulär zu sein und auch der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Zeit hinterherzulaufen. Aber der Beifall des Publikums war mehr als nur zustimmend und die Drehbühne dreht sich doch. Mathias Hejny
Münchner Volkstheater, wieder am 24., 29. Oktober, 1., 10., 13., 25. November, 19.30 Uhr, Telefon 5234655