Auf den Spuren von Lena Christ: Annette Paulmann mit Regiedebüt bei den Kammerspielen

Eine Kindheit im Wirtshaus – das klingt zunächst beschaulich. War es aber nicht: weder für die Autorin Lena Christ, die mit acht Jahren ihre Großeltern im idyllischen Glonn verließ, um bei ihrer Mutter im Familienbetrieb in München zu arbeiten.
Noch für Annette Paulmann, die ebenfalls im elterlichen Wirtshaus arbeitete und nun Auszüge aus Lena Christs Roman "Erinnerungen einer Überflüssigen" mit eigenen Texten verwebt hat – zu einem Stück, das sie mit sich selbst als Solistin im Werkraum inszeniert. "Fünf bis sechs Semmeln und eine kalte Wurst" hat heute Premiere.
AZ: Frau Paulmann, wie sind Sie auf das Werk von Lena Christ aufmerksam geworden?
ANNETTE PAULMANN: Das war ein Vorschlag des Theaters. Barbara Mundel und Chefdramaturgin Viola Hasselberg haben mir Lena Christs autobiographischen Roman "Erinnerungen einer Überflüssigen" gegeben und meinten, lies das mal, vielleicht willst du das ja spielen. Mir wurde schnell klar, dass das nichts für mich ist. Zunächst mal bin ich zu alt, für die Mutter als auch Lena Christ. Außerdem komme ich nicht aus München. Und der Dialekt, das Bajuwarisch-Volkstümliche im Roman sind mir eher fremd.
Gewalt von Müttern gegenüber Töchtern
Dennoch kam das Projekt zustande.
Ja, bei mehreren Hundespaziergängen habe ich gemerkt, dass doch etwas von dem Buch bei mir hängen geblieben ist. Vor allem, wie Lena Christ beschreibt, dass sie immer wieder von ihrer Mutter misshandelt wurde. Damit konnte ich was anfangen, weil ich selbst weiß, wie sich das anfühlt. Ich dachte mir, vielleicht ist es Zeit, auf der Bühne über etwas zu erzählen, was mehrere Generationen von Mädchen kennen und sich bis heute fortsetzt: diese Gewalt von Müttern gegenüber ihren Töchtern.

Sie wurden im niedersächsischen Ertinghausen geboren, wuchsen dort auf einem Bauernhof auf...
… und im Gasthaus. Und ich hatte eben auch eine "interessante" Mutter.
Die Ihnen hin und wieder eine gewischt hat.
Wenn man es vorsichtig formuliert.
Was macht denn die Mütter so aggressiv? Die harte Arbeit im Wirtshaus, die Unzufriedenheit mit ihrer Situation…
Woher die Wutanfälle von Lena Christs Mutter kamen, wurde bereits viel spekuliert und geschrieben, dem möchte ich öffentlich nichts hinzufügen. Aber es lässt sich sagen, dass die Geschichte von Lena Christ kein Einzelfall ist, sondern für die Geschichte tausender Mädchen steht. Die Misshandlungen bei ihr waren dabei teilweise so brutal, dass sich sogar die Nachbarn überlegt haben: Wir zeigen die Mutter an, jetzt reicht's! Es gibt auch Vermerke darüber, dass Lena Christ ins Krankenhaus musste, weil ihre Mutter sie nicht nur grün und blau, sondern blutig geschlagen hatte.
"Ich kann sagen, dass ich noch ein gutes Leben hatte"
Eigentlich denkt man bei Gewalt in der Familie an die Väter.
Das hat man so im Kopf, dass die Väter körperliche Gewalt ausüben, den Söhnen gegenüber und den Töchtern, wobei es dann eher Missbrauch ist. Aber es gibt so viele Frauen, besonders in meinem Alter, die auf dem Land aufwuchsen und so etwas seitens ihrer Mutter erlebt haben. Ich hatte eine beste Freundin im Dorf und kann sagen, dass ich dagegen noch ein gutes Leben hatte.
Und die Väter sind absent oder schauen zu?
Die Väter gehen in Deckung. Wenn ich mich an die Familien richtig erinnere, mit denen ich während der Schulzeit zu tun hatte, dann gingen die Väter vor allem ihrer Arbeit nach. Wenn die Stimmung zu Hause am Kippen war, standen sie auf und verließen den Raum. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Dieses Verhalten gibt es aber natürlich auch bei Frauen, wenn der Mann gewalttätig ist.
"Lena Christ konnte in ihrem Leben einen Schritt weitergehen"
Was gibt es denn für Strategien, sich gegen diese Gewalt zu wehren?
Als Kind kann man sich dem nicht entziehen. Erstmal: Man kennt das nicht anders. Das hat eine Normalität, so grausam, wie das ist. Und wo soll ich hin? Ich bin ja ein Kind. Ich bin in einer verhängnisvollen Abhängigkeit, in jeder Beziehung. Auf der anderen Seite ist Lena Christ etwas Erstaunliches gelungen: Über den Weg des Schreibens konnte sie in ihrem Leben einen Schritt weitergehen. Sie ist nicht stumm geblieben und hat ihr Los akzeptiert, sondern sie hat das, was ihr widerfahren ist, aufgeschrieben und konnte es dadurch zumindest teilweise bewältigen.

Dass Sie nach dem Abitur nach Hamburg auf die Schauspielschule gingen, war Ihre Art der Flucht?
Auf jeden Fall. Mein Vater war froh: Endlich Ruhe im Haus.
Und Ihre Mutter?
Da trennt sich wohl Lena Christs Geschichte von der meinigen. Meine Mutter und ich hatten viele Jahre später eine zweite Begegnung. Ich konnte dann plötzlich verstehen, wieso meine Mutter sich so verhalten und welche Rolle ich in meiner Familie gespielt hatte. Und, ach Gott, so absurd das klingt, irgendwie bin ich froh darüber, dass ich diejenige war. Denn ich bin daran nicht zerbrochen.
Parallelen zwischen Lena Christ und Annette Paulmann
Sondern Sie wurden abgehärtet?
Ja, ganz sicher. Ich habe meine Mutter irgendwann gefragt: "Warum, warum, warum? Warum das alles? Dann guckte sie mich mit diesem angriffslustigen Blick an und sagte: "Und, hat es dir geschadet? Nein!"
Die Texte von Lena Christ und Ihnen im Stücktext lassen sich gar nicht so leicht unterscheiden.
Ach ja? Das ist ja interessant. Ich dachte, dass würde man deutlicher merken. Aber das ist ja gut so.

Der Text über den Pullover, den die Tochter für ihre Mutter strickt, den die aber nicht anziehen will, im Zweifel, dass die Tochter so etwas überhaupt stricken kann…
…stammt von mir. Oder dass die Mutter ihrer Tochter sagt, dass sie ihre Arbeit nicht gut macht, dass sie vollkommen unbrauchbar sei. Ich habe eben versucht, Parallelen zu dem Buch von Lena Christ zu finden. Was sie im Roman noch weiter beschreibt – ihre unglückliche Ehe mit einem Mann, der sie ebenfalls geschlagen und missbraucht hat, die Geburt ihrer Kinder –, thematisiere ich dabei gar nicht.
"Natürlich gehören Lügen dazu"
Ihr Tod kommt aber vor. 1920 vergiftete Lena Christ sich selbst, wurde dabei gerade von der Polizei gesucht, weil sie wertlose Gemälde mit den Namen berühmter Maler signiert und verkauft hatte.
Ja, sie hatte einige Gemälde unter dem Namen des heute noch bekannten Malers Franz von Defregger gefälscht. Ein Auktionsbesitzer aus Hamburg kaufte eines der Gemälde für 25.000 Mark und merkte: Moment, das ist doch kein Defregger! Dann kam Lena Christ auf die irrige Idee, Defregger einen Brief zu schreiben und zu fragen, ob er für diese Bild ein Zertifikat ausstellen könnte. Er sollte behaupten, dass das sein Gemälde sei! Das zeigt, wie verzweifelt sie gewesen sein muss.
Sie hatte zu der Zeit überhaupt kein Geld mehr.
Nein, sie war völlig pleite. Zum Zeitpunkt ihres Todes hatte sie irrsinnige Schulden, die sie ihren Kindern hinterlassen hat. Da sieht man, was es für eine Frau, damals wie heute, bedeuten kann, wenn sie sich für eine künstlerische Laufbahn entscheidet. Wenn sie kein geregeltes Einkommen hat, in keiner stabilen Partnerschaft lebt und trotzdem sagt: Ich will nichts anderes machen. Ich bin Künstlerin!
Das Vorspielen und Täuschen rührt vielleicht von dem Verhältnis zur Mutter?
Ja, für Lena Christ und mich würde ich sagen: Natürlich gehört Lügen dazu – ums Verrecken! Die Mutter fragt: "Hast du das schon gemacht?" Und du sagst: "Ja klar, habe ich schon gemacht!" Und natürlich hast du es vergessen und rennst nochmal los. Solche Situationen beschreibt Lena Christ immer wieder.
"Mir liegt sehr daran, dass Lena Christ an die Zuschauer heranrückt"
Und das Vorspielen…
…zieht sich bei mir durch. Ich fake ja alles. Auf der Bühne, hier beim Interview…
Aber auf der Bühne ist doch alles wahr…
Nein, das verrate ich nicht!
Verstehe, Berufsgeheimnis. Verkörpern Sie jetzt Lena Christ? Oder Annette Paulmann, die Lena Christ verkörpert?
Alles!... Nein, ich würde mich nicht anmaßen, Lena Christ verkörpern zu wollen. Diese Armut, diese Art von Gewalt, das habe ich nicht erlebt und fände es zweifelhaft, das spielen zu wollen. Aber mir liegt sehr daran, dass Lena Christ an die Zuschauer heranrückt. Dass man anfängt, sich für sie und andere Frauen dieser Zeit zu interessieren. Denn letzten Endes haben sie es möglich gemacht, dass ich hier sitze und eine feste Anstellung habe.
"Ich fand ihre Kraft beachtlich"
Man rückt wohl auch ein bisschen an Annette Paulmann heran.
Da habe ich schon ein bisschen Fracksausen. Aber ich habe mir gedacht, dass es vielleicht an der Zeit ist, das mal wieder hochzuholen. Mir geht es auch auf den Geist, dass ich, egal, wenn ich ins Kino gehe oder den Fernseher anmache – wobei, den Fernseher schalte ich sowieso nicht mehr ein –, dann endet alles mehr oder weniger in so einem: "Ach, die Welt ist schön." Aber manchmal gibt es eben keine Erfolgsgeschichten. Trotz des Einsatzes, den man zu leisten bereit ist, kommt unterm Strich nichts Großes dabei heraus. Ich fand die Geschichte von Lena Christ dennoch erzählenswert, fand diese Kraft, die sie hatte, beachtlich. Und ja, meine Geschichte mit ihrer zu verbinden - das hätte ich vor fünf Jahren vermutlich noch nicht gemacht. Aber jetzt bin ich in einem Alter – ich werde im nächsten Jahr 60 -, wo ich denke, ach, alle anderen verwursten ihre Traumata in Theaterabenden. Ich mach' das jetzt auch!
Das ist nun Ihre erste Regiearbeit, mit Dîlan Z. Çapan, die den Habibi Kiosk leitet, als Co-Regisseurin. Was haben Sie übers Regieführen erfahren?
Dass es viel anstrengender ist als ich dachte. Aber mir macht es ungeheuer Spaß. Weil ich die Abteilungen noch mal anders kennenlerne. Und weil ich Entscheidungen treffen kann. Ich frage zwar die anderen: Was denkst du, was denkst du, aha… ne, ich bleibe aber bei meiner Meinung. Oder auch nicht. Ich hatte gerade in den letzten Jahren viel mit Regisseurinnen und Regisseuren zu tun, die genau wissen, was sie wollen, wo ich mich fragte: Häh? Was? Ich empfinde das ganz anders. Aber okay, ich stehe hier oben und er oder sie sitzt unten, dem muss ich jetzt vertrauen, fertig, es geht anders nicht, sonst wird man eine übellaunige Schauspielerin und damit ist niemandem geholfen. Jetzt aber kann ich ganz auf mich hören. Ich habe es aber auch nicht mit einer Bande schlecht gelaunter Schauspieler zu tun, sondern mit einer Schauspielerin, die ganz großartig ist: Die hört mir zu, die setzt alles um…
Das ist ja toll. Es gibt keine Konflikte zwischen Schauspielerin und Regisseurin?
Bis jetzt nicht.
Werkraum, Premiere am 6. Oktober, 20 Uhr, Restkarten evtl. an der Abendkasse