Anthony Bramall über "Les contes d'Hoffmann": Der große Musikbaukasten

Der Komponist konnte "Les contes d'Hoffmann" nicht vollenden. Die Oper ist - vor allem im Venedig-Akt und am Schluss - ein von Bearbeitern aufführbar gemachtes Fragment. Sie wurde trotzdem ein Erfolg. Vor etwa 50 Jahren tauchten Manuskripte Offenbachs auf, mit deren Hilfe Fritz Oeser eine "Kritische Neuausgabe" erstellte. Sie ist allerdings umstritten, weil der Herausgeber Lücken mit Hilfe von Offenbachs Oper "Die Rheinnixen" stopfte. Diese - mittlerweile wissenschaftlich überholte - Ausgabe liegt der Neuinszenierung des Gärtnerplatztheaters zugrunde, die der Chefdirigent Anthony Bramall dirigiert.
AZ: Herr Bramall, der Regisseur Jean-Pierre Ponnelle sagte einmal, Fritz Oeser sei womöglich ein großer Komponist, ihn würde aber Offenbach mehr interessieren. Warum dirigieren Sie seine Version der Oper?
ANTHONY BRAMALL: Ich habe diese Version in den 80er-Jahren kennengelernt, als ich "Les contes d'Hoffmann" in Augsburg einstudiert habe. Der traditionellen Version bin ich erst in Braunschweig begegnet. Der Regisseur hat damals allerdings den Antonia- und den Giulietta-Akt vertauscht, um die von Offenbach gewollte Reihenfolge herzustellen und auch die Muse auftreten zu lassen. Später - in Hannover - bin ich wieder zur Oeser-Fassung zurückgekehrt.

Nach weiteren Manuskript-Funden gilt die Version von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck als Standard.
Vor 30 Jahren gab es eine kritische Ausgabe der Operette "Der Zigeunerbaron" von Johann Strauss. Sie dauert vier Stunden. Wenn man eine solche Ausgabe pur auf die Bühne bringt, macht man etwas falsch, finde ich. Ich denke, bei der Version Kaye und Keck ist das ähnlich. Diese Fassung kommt mir zu lang vor. Derlei hat mit einem intuitiven Gefühl für ein Werk zu tun - und mit dem Publikum. Offenbachs Musik muss etwas Leichtes haben. Und das hat ein Vier-Stunden-Werk nicht. Deshalb muss man eine Auswahl treffen.
Neben den Fassungen stellt sich die Frage: Gesprochene Dialogen oder Rezitative?
Wir haben uns für Rezitative entschieden. Außerdem werden manche Passagen auf Französisch gesungen, etwa die Olympia-Arie und wenn die Figuren etwas aus der Erinnerung zitieren.
Oeser rekonstruierte auch den allegorischen Prolog, in dem die Muse und die alkoholischen Geister auftreten.
Der Regisseur Stefano Poda inszeniert in einem bildgewaltigen, archetypischen Stil. Niklas und die Muse lassen sich bei ihm nicht vollständig trennen. Wir beginnen ohne das "Glou! glou" direkt in der Weinstube von Lutter und Wegner.
Und am Schluss?
Bereits die traditionelle Fassung enthält Varianten: den Saufchor der Studenten oder "Ô Dieu, de quelle ivresse" und die letzte Strophe von Hoffmanns "Kleinzack"-Lied. Das ist ziemlich herausfordernd für den Tenor, weshalb ich damit vorsichtig wäre.

Es ist auch eine inhaltliche Frage: In der einen Fassung trinkt Hoffmann bis zum Exzess, bei Oeser wird er von der Muse erlöst.
Wir haben uns musikalisch für die Apotheose entschieden. Poda brauchte für seine Bild-Idee am Ende etwas Großes und Monumentales. Das hat Oesers Ausgabe im Angebot.
Die kritischen Ausgaben haben zwei beliebte Nummern aus dem Giulietta-Akt in Verruf gebracht: Das sogenannte Septett und die Spiegel-Arie.
Das Septett machen wir nicht. Die Spiegel-Arie ist zumindest soweit von Offenbach, wie "Wiener Blut" als Operette von Johann Strauss durchgehen kann: Die Melodie stammt aus einer seiner Ouvertüren. Diese Arie wird gesungen, aber - einem Vorschlag der Ausgabe von Oesers folgend - als Arie des Coppelius. Dafür gibt es die echte Dapertutto-Arie im Venedig-Akt.
Offenbach wollte dass Olympia, Antonia, Giulietta von der gleichen Sängerin als verschiedene Aspekte Stellas dargestellt werden. Warum hat das Gärtnerplatztheater die Rollen aufgeteilt?
Gegenfrage: Wie oft haben Sie Aufführungen mit einer Sängerin gesehen, in der das funktioniert hat?
Noch keine.
Eben. Das ist der Grund. Es klappt in den seltensten Fällen, weil die Rollen sehr unterschiedliche Anforderungen haben. Oeser hat die Musik zwar so eingerichtet, dass es gehen kann. Aber mich überzeugt das nicht.

Letztendlich ist die Oper "Les contes d'Hoffmann" ein Baukasten mit Wahlmöglichkeit.
Das sehe ich ähnlich.
Gibt es pandemiebedingte Einschränkungen?
Das Schlagzeug wird aus dem Orchesterproberaum übertragen, die Streicher sind leicht reduziert. Klar, ein pastoser Streicherklang ist etwas sehr Schönes. Aber bei Offenbach halte ich das für vertretbar. Außerdem ist das Orchester gewöhnt, in kleiner Besetzung zu spielen. Unser Graben begünstigt außerdem einen hellen Klang, der zu "Hoffmann" passt.
Warum geben Sie die Position des Chefdirigenten auf?
Das ist erst in zwei Spielzeiten. Davor habe ich noch eine Menge vor, darunter ein Werk, das ich schon lange einmal machen möchte. Außerdem bleibe ich erster Gastdirigent - mit mehr Freiheiten und ohne das organisatorische Drumherum.
Premiere heute, 19.30 Uhr. Trotz der 50-Prozent-Regel ist an der Abendkasse nur mit einzelnen Restkarten zu rechnen. Weitere Vorstellungen am 30. Januar, 6., 8., 24. und 26. Februar