"Alles ist aus, aber wir haben ja uns": Romcom am Münchner Volkstheater
Vielleicht sind Seepferdchen einfach die besseren Menschen. Von traditioneller Rollenverteilung halten sie wenig, die Männchen tragen ganz selbstverständlich ohne Murren die Kinder aus und auch sonst schweben sie aufrecht und ziemlich entspannt durchs Leben. Austern können mehrmals im Leben ihr Geschlecht wechseln. Und Meerjungfrauen sind ohnehin alle weiblich. Vielleicht ist so eine Unterwasserwelt also genau der richtige Ort für ein bisschen Utopie?
Der Autor und Regisseur Bonn Park jedenfalls taucht in seinem neuen Stück am Münchner Volkstheater ab in die Tiefen des Ozeans. Schon der Titel verrät, worum es ihm geht: "Alles ist aus, aber wir haben ja uns (Unterwasser)". Ein bisschen menschliche - oder eher fischliche - Wärme gegen den Weltuntergang. Gemeinsam mit dem Komponisten Ben Roessler, mit dem er auch beim Vorgänger-Stück "Gymnasium" zusammenarbeitete, hat er sich von den romantischen Filmkomödien der 1990er Jahre inspirieren lassen und deren Klischees genüsslich durcheinandergewirbelt.
Gleich zu Beginn schälen sich drei Meerjungfrauen aus übergroßen Jakobsmuscheln, räkeln sich und singen zum plätschernden Unterwasser-Sound. Sonja Lachenmayr, Akari Nomizu, Patrick Stapleton und Nino Stübinger begleiten den Abend musikalisch mit Harfe, Synthesizer, Marimbaphon und Kontrabass. Aus sphärischen Klängen bilden sich irgendwann Worte heraus: "Alles ist aus".
Schuppige Kostüme verwandeln Ensemble in Meerjungfrauen
Ein merkwürdiger Kontrast zur lilafarbenen Disney-Kulisse, ein Riss in der Perfektion. Bühnenbildnerin Laura Kirst hat eine Unterwasserwelt entworfen, die an das versunkene Atlantis denken lässt und in der schon mal ein Seepferdchen-Taxi vorbeikommt oder ein leuchtender Fisch vorüber schwebt.
Das Ensemble verwandelt sich durch die Kostüme von Leonie Falk in eine Gruppe von Meerjungfrauen in schuppig-glitzernden Hosen mit Flossen und fantasievollen Frisur-Kreationen auf dem Kopf. Meerjungmänner gibt es nicht, darum herrscht hier ganz selbstverständlich das generische Femininum. Geschlecht ist unter Wasser ja ohnehin ein irgendwie veraltetes Konzept.
Regisseur fürchtet weder Kitsch noch Klischee
In diesem Setting also erzählt Bonn Park im wahrsten Sinne des Wortes diverse Liebesgeschichten. Die frisch gewählte Premierministerin heißt Hugh (wie Grant), was nicht zufällig an die Film-Komödie "Tatsächlich… Liebe" erinnert. Über das Personenverzeichnis hat Park geschrieben: "Alle sind beste Freunde und lieben sich sehr."
Und auch sonst fürchtet er weder Kitsch noch Klischee. Im Gegenteil, er badet förmlich darin, dekliniert alle möglichen Konstellationen von Paar- und Familienbeziehungen durch. Von der Liebe auf den ersten Blick über die unerfüllte Sehnsucht bis zur lebenslangen Ehe ist alles dabei. Dass Männer Frauen spielen und umgekehrt, ist dabei nur konsequent.
Und doch ist die pastellfarbene Idylle von Anfang an trügerisch. Diese Welt ist schon einmal untergegangen. Nun droht der zweite Untergang, auch die Unterwasserwelt wird zunehmend unbewohnbar. Ein großer Schulterschluss ist nötig, um diese Welt zu retten, ein "Abkommen der Länder und Herzen". Die Gefahr bleibt hier abstrakt. Im Laufe des Abends verschwinden Säulen und Treppen einfach im Nichts, alles befindet sich in Auflösung.
Figuren schaffen sich eigene Wahrheiten
An den Körpern der Meerjungfrauen machen sich Algen und Seepocken breit, überall kleine Anzeichen für einen Wandel, der keiner zum Guten zu sein scheint. Die Lösung: eine Vereinigung mit dem Reich der Kaiserin Li, deren Name nicht zufällig nach Liebe klingt. Vincent Sauer als Hugh und Henriette Nagel als Li beherrschen alle Facetten des Verliebens, des Streitens und der Versöhnung zum Happy End. Ihr Aufeinandertreffen wird ein Höhepunkt des Abends.
Mitten beim Staatsempfang dröhnt die Wirklichkeit in Form der Nachrichten herein. Da diese so gar nicht zum heiteren Kreisen um sich selbst passen wollen, werden sie von der liebestrunkenen Gesellschaft einfach ignoriert. Wie schon in "Gymnasium" schaffen sich die Figuren lieber eigene Wahrheiten, wenn die Fakten unangenehm werden. So lange, bis es nicht mehr geht. Vielleicht sind sie uns ja doch näher als gedacht, diese geschlechtshybriden Flossenwesen?
Eins wird karibikwasserklar an diesem Abend: Theater kann Spaß machen und trotzdem tief tauchen. Und das ist auf jeden Fall eine gute Nachricht! Es ist Bonn Parks großes Talent, die Schrecken der Wirklichkeit in fantastische Szenarien zu überführen und den Finger in die Wunden unserer Zeit zu legen. Ob das nun Intoleranz ist oder der Klimawandel. Park spielt mit Schatten, Klängen, Assoziationen, jongliert mit Zitaten und schafft knallbunte Bilder für die Zerstörung unseres Planeten.
Wenigstens unter Wasser gibt es noch Happy Ends
Schwerelos wechselt das Ensemble zwischen Naivität und Weitblick, zwischen Dystopie und Utopie. "Alles ist aus, aber wir haben ja uns" versorgt uns mit der Portion Optimismus, die wir alle so dringend brauchen, und vergisst doch nie die Realität da draußen.
Diese Unterwasserwelt ist ein Sinnbild für die Welt da oben, in der auch alles verschwindet, ob es nun Gletscher sind oder bedrohte Tierarten, und in der es auch dringend nötig wäre, "die Zukunft zu retuschieren". Dass es zumindest unter Wasser ein Happy End gibt, ist von der ersten Sekunde an klar. Es kommt. Und wie! Am Ende heben alle ab in eine bessere Zukunft. Vielleicht ist der Glaube an das Gute, an das "große Abkommen der Länder und Herzen", ja wirklich ein erster Schritt. Vielleicht auch über Wasser?
Wieder am 2., 3. und 6. Februar 2023
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