"4.48 Psychose" im Metropoltheater: Wo ist die Wut geblieben?

Mit ihrem fünften und letzten Stück "4.48 Psychose" hat Sarah Kane einen harten, schonungslos ehrlichen Text über ihre Depressionen und Suizidgedanken hinterlassen. Im Juni 2000 wurde das Werk am Londoner Royal Court Theatre uraufgeführt, fast eineinhalb Jahre nachdem Kane sich am 20. Februar 1999 im Alter von 28 Jahren in einer psychiatrischen Klinik selbst das Leben genommen hatte.
Kanes Stück spricht offen über Leben und Tod
Wie in den vier vorherigen Stücken nimmt Kane kein Blatt vor den Mund, drückt in einer teils direkten, teils bildhaft-poetischen Sprache aus, wie sie die Lust am Leben verloren hat, den Tod fürchtet, aber auch herbeisehnt, voller Wut auf sich selbst und ihr Umfeld: "Nichts löscht sie aus, meine Wut", heißt es einmal. "Und nichts gibt mir den Glauben zurück. Ich will nicht leben müssen in so einer Welt."
"4.48 Psychose" bereits 2012 an den Kammerspielen
So einen radikalen, deutlich postdramatischen Text ohne Rollenzuweisungen und stringentem Plot auf die Bühne zu bringen, ist kein leichtes Unterfangen. Johan Simons hat das 2012 an den Kammerspielen erfolgreich versucht, als er gleich drei Kane-Stücke, "Gesäubert", "Gier" und eben "4.48 Psychose", als Triptychon inszenierte und letzteres Stück als Sprachpartitur verstand (im Duett: Thomas Schmauser und Sandra Hüller), zu dem sich die minimalistische Kammermusik eines Streicherensembles gesellte.
Jochen Schölch geht in seiner Inszenierung am Metropoltheater nun einen anderen Weg. Anstatt in die (musikalische) Abstraktion zu gehen, nimmt er den Text als Anlass für doch recht konkrete Theatersituationen, weitet dabei mit seinen - wie immer beachtlich sprudelnden - Regie-Ideen den Blick ins Innere der Protagonistin aus, illustriert aber auch oftmals nur das, was bereits im Stück steht.
Dialog zwischen Arzt und Patientin
So tritt Judith Toth im weißen Patientinnenhemd auf, hat unter ihrer Wollmütze, wie im Text erwähnt, einen kahlgeschorenen, sprich, zur Glatze abgeklebten Kopf. Gott wird angesprochen, beschimpft ("Fick dich, Gott!"), dementsprechend leuchtet starkes Licht von oben, der Blick hebt sich.
Thomas Meinhardt tritt als waschechter Dialogpartner auf, er der Arzt, der sie, die Patientin, zur Vernunft bringen will. Wenn er bemerkt, dass sie sich den Arm aufgeritzt hat, findet er, dass das "kindisch" sei, "nur weil man im Mittelpunkt stehen will." Und schon spricht Toth mit der Stimme eines Kindes.
Die Stimme kommt kaum merklich vom Band, wie auch in vielen anderen Passagen, wobei es auch die aufgenommen Stimmen der Darstellenden sind, die man hört, während sie synchron dazu ihre Lippen bewegen. Die Sätze kommen also nicht direkt aus den Körpern, ein Gefühl von Selbstentfremdung vermittelt sich.
Bühnenbild unterstreicht die Spannung des Inhalts
Auch das Bühnenbild ist auf Zersplitterung, auf Spiegelungen angelegt. Ein breiter, eckiger Kasten aus Plexiglas bestimmt die Bühnenmitte, davor markieren rundum aufgespannte, grün leuchtende Stränge mitsamt einem Schild "Achtung Spannung" eine nicht zu übertretende Grenze.
Das Publikum verteilt sich auf zwei Seiten dieses Hochspannungskastens, wobei man sich, während das Saallicht noch an ist, im Glas erstmal selbst reflektiert sieht. Dann wird es dunkel und nachdem Judith Toth aufgetreten ist, wird ihr Körper im Innern des Spiegelkabinetts vervielfacht.
Eindeutige Grenzen verschwimmen mit der Zeit
Das ist schön anzuschauen, und bei Kane geht es ja auch um eine fragile Psyche unter Spannung, die sich von der Außenwelt abgekapselt hat; eine Frau, die von der Zerrüttung ihres Körpers spricht und sich fragt, ob es das gibt: einen Menschen, der im falschen Körper geboren wird?
Als männliches Spiegelbild taucht Thomas Meinhardt passend dazu auf, später lässt sich sein Geschlecht nicht mehr eindeutig bestimmen. Die Arztposition wird aufgehoben, was dem Flottieren der Identitäten im Stück dann doch entspricht.
Und dennoch: "4.48 Psychose" bezieht seinen Titel daraus, dass das Ich morgens um 4 Uhr 48 seine hellsten Momente erlebt, da der Geist nicht mehr oder noch nicht von der Wirkung der Psychopharmaka umnebelt ist.
Kane seziert in aller Herrgottsfrühe mit ausnahmsweise klarem Kopf ihren Zustand, konfrontiert ihre Zuhörer unverblümt mit depressiven, suizidalen Gedanken. "In-yer-face Theatre" wird diese vor allem in den Neunzigerjahren auf britischen Bühnen gepflegte Form des Vortrags genannt. Ein Schlag "mitten in die Fresse" will dieses Theater sein, unvermittelt und brutal.
Inszenierung führt zu Distanz zwischen Publikum und Bühne
Schölch aber geht allein schon dem Bühnenbild auf Distanz zum Publikum. Wie das Mitglied eines Schiedsgerichts schaut man in den Glaskasten, aber fühlt dabei fast nichts. Zudem absolviert das Duo einen kleinteiligen Parcours zwischen stillem Spiel und Dialog, Selbstgesprochenem und Playback, den beide hervorragend bewältigen, aber auf Kosten der Direktheit und Aggressivität des Texts.
Wo ist sie denn geblieben, die Wut der Sarah Kane? Judith Toth fahndet feinsinnig den Emotionen der Patientin nach, rundet ihre (aufgenommenen) Stimme aber mit einer Wärme ab, die nichts mit Kane zu tun hat.
Poesie der Autorin geht durch den Regisseur verloren
Dass die britische Dramatikerin gerade gegen Ende ihr Stück zerfleddern und einzelne Phrasen in die Leere des Blatts positioniert, womit wohl auch ein Versiegen der Stimme verbildlicht wird - dazu fällt Schölch offenbar nichts ein. Stattdessen lässt er Toth überdeutlich eine Kapsel im Mund zerknacken (der Suizid!) und eine weitere Zahlenreihe herunterzählen. Vom Furor und der Poesie Kanes ist da nicht mehr viel übrig.
Klar, dieses Stück ist nicht nur was für die Kammerspiele, und Inszenierungen sollten natürlich nicht verglichen werden. Aber wenn ein freies Theater so brav jeder Provokation, jedem Schmutz und Schock aus dem Weg geht, sollte es doch lieber die Finger von so einem Stoff lassen.