Zwei Bücher über Freiheit

Die beiden Autoren haben auf den ersten Blick nichts gemeinsam. Der eine ist Donald Trumps "Running mate", also der Kandidat für die Vizepräsidentschaft. Der andere ist ein streitbarer Historiker aus Ost-Berlin, der als politischer Intellektueller auch die Tagespolitik kommentiert.
J. D. Vance brachte 2016 das autobiografische Buch "Hillbilly-Elegie" heraus, das seine Unterschicht-Jugend im Rust Belt beschreibt, einer Gegend im Nordosten der USA, die der Niedergang der Stahlindustrie in eine schwere Krise gestürzt hat. Deutsche Rechte witterten Cancel Culture, weil der Ullstein-Verlag nach der Ernennung von Vance zum Kandidaten für die Vizepräsidentschaft eine Neuauflage verweigerte, weil der Autor "eine aggressiv-demagogische, ausgrenzende Politik" vertrete. Allerdings kam das Buch sogleich in alter Aufmachung im Yes-Verlag heraus, der - wie Ullstein - zur Bonnier-Verlagsgruppe gehört.

Bekenntnis zur Eigenverantwortung
Wenn man Vances Buch gleichzeitig mit Ilko-Sascha Kowalczuks "Freiheitschock" liest, fallen überraschende Gemeinsamkeiten auf. Das hat weniger mit dem Rust Belt zu tun. Der wirtschaftliche Wandel in der ehemaligen DDR vollzog sich schonender. Und eine vom Drogenkonsum der Mutter überschattete Kindheit voller Gewalt und häufig wechselnden Stiefvätern dürfte dort auch nicht die Regel sein.
J. D. Vance lebte als Kind und Jugendlicher überwiegend bei seiner Großmutter. Sie gab seinem Leben Stabilität. Sein Freiheitsschock ist für deutsche Leser paradoxerweise der Entschluss, zu den Marines zu gehen. "Wenn ich gefragt werde, was ich an der weißen Arbeiterschicht am liebsten ändern würde, sage ich deshalb immer: Das Gefühl, dass unsere Entscheidungen keine Folgen haben. Das Marine Corps war der Chirurg, das dieses Gefühl aus mir herausschnitt wie einen Tumor."

Vance lernte durch die harte Ausbildung bei den Marines, Verantwortung zu übernehmen und selbstbestimmt zu leben. Sein Vertrauen in staatliche Maßnahmen zu Verbesserung sozialer Verhältnisse ist daher eher gering. Er spricht davon, dass es vor allem etwas bringt, wenn Einzelne andere Individuen fördern, etwa Lehrer ihre Schüler oder einzelne Vorgesetzte beim Militär ihre Untergebenen.
Der fürsorgliche Staat und seine Schattenseiten
In diesem Bekenntnis zur Eigenverantwortung trifft sich Vance auf frappierende Weise mit dem deutschen Historiker. Für Kowalczuk ist die Unterdrückung individueller Autonomie das schlimmste Erbe der Diktatur, die so keine Zivilgesellschaft entstehen ließ. In der DDR hatten, um es wiederum in den Worten von Vance zu sagen, Entscheidungen angesichts der fürsorglichen Allmacht des Staates keine Folgen, so lange man sich von explizit Oppositionellen fernhielt.
Der Freiheitsschock des Ostens war die Volkskammerwahl im März 1990. Damals wurde eine schnelle Wiedervereinigung gewählt, ohne die Folgen zu bedenken. Die DDR-Bürger "erfanden einen Westen, den es nie gab. Sie konstruierten eine Idylle, die sie am 18. März 1990 herbeiwählen wollten. Eine Fehlwahrnehmung, die fast niemand dem eigenen Unvermögen anlastete, sondern dem Westen selbst, der sie angeblich getäuscht, betrogen, belogen hätte."

Die schnelle Wiedervereinigung führte zur raschen Abwicklung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhand. Sie ist trotz der sozialen Abfederung - die es im amerikanischen Rust Belt in der Form nie gab - ein ostdeutsches Trauma geblieben. "Viele Menschen hatten sich vorher vielen Täuschungen hingegeben, was ihnen die Einführung der D-Mark bringen würde. Und aus dieser Täuschung ist eine millionenfache Enttäuschung geworden", so Kowalczuk.
Undank ist der Welten Lohn
Das habe mit der "staatsautoritären Prägung" der ehemaligen DDR-Bürger tun, die der Autor scharf kritisiert. Sie wurde durch den politischen Prozess der Wiedervereinigung noch bestärkt: "Denn dieser war ein etatistischer Vorgang, der ganz darauf setzte, dass der Staat alles regeln würde."

Der Staat regelte auch: durch eine individuell enttäuschende, im Großen gesehen aber durchaus großzügige soziale Abfederung, die einem "Geschenk" gleichkam, auf das die neuen Bundesbürger durch die Wiedervereinigung einen juristischen Anspruch hatten. Geschenke aber, so Kowalczuk, haben Tücken: Menschen gehen mit ihnen achtlos um: "In Deutschland, zumal in Ostdeutschland, können wir das schon lange beobachten. Freiheit genießt kein sonderlich hohes Ansehen", wenn man etwa an die Sympathien im Osten für Putin und die bis zum Hass gesteigerte Ablehnung des Freiheitskampfs der Ukraine denkt.
Kowalczuk schreibt essayistisch und polemisch zugespitzt, wenn auch bisweilen nicht frei von Wiederholungen. Auch sein Buch ist auf weite Strecken autobiografisch. Bewegend ist, wenn der Autor über den herzlosen Umgang mancher DDR-Bürger mit seinen geistig behinderten Cousins berichtet. Als sein Onkel 1985 mit einem von ihnen nach West-Berlin gefahren sei, habe er nach der Rückkehr geweint: Niemand glotzte sie dort in der U-Bahn an, niemand machte diskriminierende Anspielungen auf die Euthanasie während der NS-Zeit.
Der Bruch im Leben von J.D. Vance
Tränen der Rührung hat vor Jahren auch "Hillbilly-Elegie" ausgelöst: ausgerechnet beim als kühl geltenden Olaf Scholz. Man ist aber nicht herzlos, wenn einen das Buch trotz einiger bewegender Passagen über das maximal unglückliche Leben von Vance' Mutter eher kalt lässt, weil der Aufstieg des Hinterwäldlers zum Absolventen der Elite-Uni Yale ein wenig zu sehr dem amerikanischen Klischee entspricht. Das Buch ist trotzdem lesenswert, weil Vance "messerscharf die Ungerechtigkeiten der amerikanischen Gesellschaft" analysiert, wie Scholz nach dem ersten Erscheinen in der "Süddeutschen" schrieb.
Nichts deutet bei der Lektüre darauf hin, was diesen offenbar klugen und seinen Mitmenschen zugewandten Vance heute dazu treibt, das Gerücht zu verbreiten, haitianische Einwanderer würden Katzen essen.
Vance nennt sich in dem Buch einmal einen politisch Konservativen. Als er es schrieb, gehörte er noch einer einfühlsameren und nicht der trumpistischen Richtung an, die politische Gegner verächtlich macht und als Feinde betrachtet. Bei Kowalczuk ist nicht zu befürchten, dass er in die Politik geht. Dafür ist er zu sehr ein linksliberaler Einzelgänger, der sich auf Karl Popper und andere Theoretiker beruft.

Kowalczuk stört sich vor allem an "einem Blick auf die Geschichte, bei dem die DDR nicht immer schöner wird, je länger sie her ist". Damit meint er die Verklärung der DDR, etwa in den Büchern von Dirk Oschmann ("Der Osten: eine westdeutsche Erfindung"), der Historikerin Katja Hoyer und der Schriftstellerin Jenny Erpenbeck. Und es ist wenig überraschend, dass er mit der AfD und dem Wagenknecht-Bündnis messerscharf abrechnet.
Man kann Bücher wie "Freiheitsschock" oder "Hillbilly-Elegie" nicht schreiben, ohne Millionen von wildfremden Menschen zu psychologisieren und ihnen eine kollektive Identität zu unterstellen - und sei es nur als Denkfigur. Bei Vance stört das weniger - er ist kein Wissenschaftler, auch wenn er hin und wieder soziologische Studien zitiert. Bei einem Historiker, der in seiner monumentalen Ulbricht-Biografie stets analytisch auf Basis der Quellen argumentiert und das Psychologisieren vermeidet, ist es ein methodisches Problem, so erhellend und klarsichtig sich "Freiheitsschock" auf weite Strecken liest.
J. D. Vance: "Hillbilly-Elegie" (Yes, 303 S., 18 Euro); Ilko-Sascha Kowalczuk: "Freiheitsschock" (C. H. Beck, 240 S., 22 Euro)