Interview

Vom Ende eines Traums

Ein großes, literarisches Abenteuer: Pierre Jarawans Roman "Frau im Mond"
Volker Isfort
Volker Isfort
|
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Das Foto von Pierre Jarawan zeigt den Hafen von Beirut, die Spuren der Explosion sind auch Jahre später noch zu erkennen.
Das Foto von Pierre Jarawan zeigt den Hafen von Beirut, die Spuren der Explosion sind auch Jahre später noch zu erkennen. © Pierre Jarawan

Einem so fantasiebegabten Erzähler wie dem Münchner Autor Pierre Jarawan vertraut man sich als Leser gerne an. Denn er setzt ganz ungebrochen auf die Überwältigungskraft spannender Geschichten.

In seinem neuen Roman "Frau im Mond" erzählt die in Montreal geborene Filmemacherin Lilit vom Schickal ihrer Einwandererfamilie. Da gibt es die schon lange gestorbene Großmutter Anoush, die als Kleinkind den Völkermord an den Armeniern überlebte und im kanadischen Exil Maroun el Shami heiratete. Dieser inzwischen Hundertjährige war in den 60er Jahren Teil der "Lebanese Rocket Society" und hat seine Enkeltöchter, die Zwillinge Lina und Lilit, im Kino mit Fritz Langs Film "Frau im Mond" für die Raumfahrt zu begeistern versucht.

Bei Lilit ist zumindest das Interesse am Film hängengeblieben. Nachdem sie Jahre später eine Dokumentation über ihre Schwester, die Walforscherin wurde, gedreht hat, steckt Lilit nun in einer Krise. Die Mittdreißigerin ist gerade wieder Single und sucht nach einem neuen Filmstoff. Als sie auf ein Geheimnis ihrer Großmutter stößt, nimmt sie dies zum Anlass, um 2020 in den Libanon zu reisen und zu recherchieren.

Pierre Jarawan verknüpft in seinem Roman geschickt Motive und Geschichten zu einem fesselnden Gesamtbild: ein großes, literarisches Abenteuer.

Das Foto von Pierre Jarawan zeigt den Hafen von Beirut, die Spuren der Explosion sind auch Jahre später noch zu erkennen.
Das Foto von Pierre Jarawan zeigt den Hafen von Beirut, die Spuren der Explosion sind auch Jahre später noch zu erkennen. © Pierre Jarawan

AZ: Herr Jarawan, was war Ihr Ausgangspunkt für diesen Roman?
PIERRE JARAWAN: Ich habe 2017 im Haus der Kunst eine Ausstellung von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige besucht. Da gab es Bilder der "Lebanese Rocket Society". Ich hatte schon viel über den Libanon recherchiert und gelesen und war nie auf das Thema gestoßen. Aber es stimmt, neben den Sowjets und Amerikanern hatte zeitweilig auch der Libanon ein Raumfahrtprogramm und im Nahen Osten träumte man davon, ein Araber könnte der erste Mann auf dem Mond werden. Heute klingt das unglaublich. Es gibt inzwischen eine kleine Rakete als Denkmal auf dem Campus der Armenischen Universität in Beirut, aber das Thema ist auch im Libanon völlig verschwunden. Was mir auffiel war der 4. August 1966, der Tag, an dem die letzte Rakete gestartet wurde, die auch den Weltraum erreichte. Ich habe selber am 4. August Geburtstag, deswegen ist mir der Tag im Gedächtnis geblieben. Mein erster Impuls war: Das muss man doch erzählen! Aber die Geschichte allein ist noch kein Roman.

Für viele Autoren wäre das sicher einer.
Ja, aber mir hat da was gefehlt. Ich sah das eher als eine super Anekdote, aber mir fehlte der Gegenwartsbezug. Dann habe ich das Thema beiseite geschoben und erst einmal meinen Roman "Ein Lied für die Vermissten" geschrieben. Und dann explodierte am 4. August 2020 das Silo im Hafen von Beirut mit katastrophalen Auswirkungen für das Land. Plötzlich gab es also zwei Explosionen, die durch dasselbe Datum verbunden waren. Der Höhepunkt eines Traums auf der einen und der Höhepunkt eines Alptraums auf der anderen Seite. So begann ich, meine Romanidee zu entwickeln.

Typische Ziegelgebäude im  Einwandererviertel Le Plateau  in Montreal. Hier spielt ein Teil von Pierre Jarawans Roman
Typische Ziegelgebäude im Einwandererviertel Le Plateau in Montreal. Hier spielt ein Teil von Pierre Jarawans Roman © Copyright: Dreamstime Chatdesba (www.imago-images.de)

 Das ist der Hauptpfad des Romans, aber Sie sind ein Schriftsteller, für den die Nebenwege ebenso wichtig sind.
Ich habe das Gefühl, ich kann nur so schreiben, mit einem Blick auch auf die kleinen Geschichten. Das bringt oft einen wahnsinnigen Recherche-Aufwand mit sich, den ich aber als sehr fruchtbar empfinde. Wenn ich beispielsweise eine Figur in eine libanesische Seidenfabrik in den Fünfzigerjahren begleite oder eine andere Figur über den richtigen Treibstoff für ihre Rakete nachdenkt, dann möchte ich genau wissen, was es dafür braucht. Deswegen benötige ich auch so lange für meine Bücher. Und all die Nebenpfade haben eine Funktion, sie sind wie kleine Fäden in einem Teppich, die nach und nach ein großes Bild ergeben. Manche mögen auf den ersten Blick abwegig erscheinen, wenn wir etwa 1920 in Boston kurz auf den Trickbetrüger Charles Ponzi schauen, aber diese Abzweigung im Roman ist wichtig, um die Wirtschaftskrise im heutigen Libanon zu verstehen. Das Ganze so zu bauen, hat auch sehr viel Spaß gemacht.

Wieso erzählen Sie die Geschichte von Montreal aus?
Die "Lebanese Rocket Society" hatte sich an der armenischen Hochschule in Beirut gegründet. Man kann also nicht über die "Rocket-Society" schreiben, ohne über die Armenier im Libanon zu schreiben. Aber warum waren so viele Armenier überhaupt da? So kommt man ins Jahr 1915 zum Genozid an den Armeniern durch die Regierung des Osmanischen Reichs. Da war mir klar, dass ich über hundert Jahre im Roman abdecken, also drei Generationen Familiengeschichte erzählen muss. So kam ich auf den hundertjährigen Raketenveteranen und Großvater Maroun und dessen Lebensgeschichte. Maroun kann 1939 als Libanese nicht in Deutschland studiert haben, auch kaum in Europa. So blieben vor allem Amerika und Kanada und letztere Option fand ich reizvoller, weil weniger beschrieben. Tatsächlich gab und gibt es viele armenische und libanesische Einwanderer im Montrealer Stadtviertel Plateau-Mont-Royal. Ihre Spuren kann man bis heute sehen.

Katja Huber und Pierre Jarawan  erhielten 2024 den  Ernst Hoferichter Preis der Stadt München
Katja Huber und Pierre Jarawan erhielten 2024 den Ernst Hoferichter Preis der Stadt München © IMAGO/B. Lindenthaler (www.imago-images.de)

Sie erzählen den Roman als Countdown in 50 Kapiteln, in Anlehnung an Fritz Langs titelgebenden Film "Frau im Mond" von 1929.
Ja, Fritz Lang hat in seinem Film den Countdown erfunden. In meinem Roman sieht Maroun "Frau im Mond" 1931 erstmals im Kino, und ist fortan besessen davon, Raketen zu bauen. Somit geht es bei mir auch um den Einfluss der Kunst auf die Wirklichkeit. Allein zu Fritz Langs Film lassen sich die irrsten Geschichten erzählen, wenn man nur Wernher von Braun betrachtet: Er berät Fritz Lang 1929 während der Dreharbeiten. Der damalige Stand der Wissenschaft ist, dass es vielleicht Gold auf der Rückseite des Mondes gibt und dass eine Rakete zum Mond am besten aus einem Wasserbecken startet, weil so die Schwerkraft geringer ist. Später baut von Braun die V2-Rakete für Hitler, wird von den Amis 1945 verhaftet und für ihr Raketenprogramm rekrutiert und bringt sie als Direktor der NASA schließlich auf den Mond.

Da hatte der Libanon sein Raketenprogramm schon eingestellt. Die goldenen Zeiten des Landes sind inzwischen längst vorbei.
Ich war sehr häufig dort, zuletzt 2023 und habe mit eigenen Augen gesehen, wie alles schlechter geworden ist. Normalerweise sieht man Beirut funkeln, wenn man nachts auf die Stadt zufährt. Diesmal war alles stockduster. Mehrfache Stromausfälle sind die Normalität, ebenso eine stark gewachsene Armut.

Im Roman sagt eine junge Libanesin, das sei die Zukunft der Welt...
… wenn sich nichts ändert. Libanesen erleben seit Jahrzehnten, dass Gesetze für die Mächtigen keine Rolle mehr spielen, dass der Staat vollkommen korrupt ist, dass das Geld von unten nach oben wandert. Die Explosion im Hafen hat auch die Revolutionsbemühungen von 2019 komplett erstickt. Als am 4. August 2020 die 3500 Tonnen Ammoniumnitrat in die Luft flogen, war das die größte nicht-atomare Explosion in der Geschichte. Es gab einen Zerstörungsradius von zehn Kilometern, außerdem ist durch die Explosion des Silos die Nahrungsversorgung fast kollabiert.

Lesen Sie auch

Ihr ungemein reicher Roman behandelt die Raketenforschung, Geschichte der Seidengewinnung, Filmgeschichte, den Genozid und ein Dutzend weiterer Themen, die Sie alle recherchieren müssen.
Ich finde es unheimlich interessant, mich so in die Themenfelder reinzufuchsen. Mental schwierig wurde es beim Genozid, wenn man da die Augenzeugenberichte liest von Massengräbern, einem Fluss, der drei Tage lang rot von Blut ist...

Tickt beim jahrelangen Schreiben eine innere Uhr, Sie müssen schließlich auch noch eine Familie ernähren?
Zum Glück nicht allein, meine Frau arbeitet ja auch. Für die Arbeit an diesem Roman habe ich ein einjähriges Stipendium vom Deutschen Literaturfonds bekommen, später noch das Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern und natürlich auch einen Verlagsvorschuss. Ich leite eine Schreibwerkstatt im Literaturhaus, gebe hin und wieder Workshops in Schulen. Ich bin froh, vom Schreiben leben zu können, und weiß, dass das keine Selbstverständlichkeit ist.

Lesen Sie auch

Sie sind vor neun Jahren mit "Am Ende bleiben die Zedern" erfolgreich gestartet. Haben Sie sich das Leben als Schriftsteller einfacher vorgestellt?
Ich habe es mir weder einfach, noch schwierig vorgestellt. Ich weiß nur, dass ich nie was anderes wollte. Meine Mutter erzählt gern die Anekdote, dass ich mit zwölf Jahren beim Abendessen verkündet habe, mal ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden. Seit mein Debüt erschienen ist, hat sich vieles verändert, die mediale Aufmerksamkeit für Literatur ist geringer geworden. Es gibt immer weniger Plätze, an denen Literatur besprochen wird, das halte ich, gerade in Zeiten wie heute, für fatal. Auch die Pandemie hat Spuren hinterlassen, wenn ich mich umhöre, sind große Lesereisen seltener geworden, weil weniger veranstaltet wird. Was das angeht, darf ich mich glücklich schätzen, und ich kann mir nicht vorstellen, etwa anderes zu machen.

Sie ironisieren in der Figur der Filmemacherin Lilit den westlichen Blick im Kunstbetrieb. Lilit erfährt durch ihre Herkunft eine besondere Aufmerksamkeit.
Sie hadert damit, stets auf die Herkunft ihrer Großeltern reduziert zu werden, denn sie selbst ist in Montreal geboren und kennt den Libanon nicht. Ich habe das ähnlich erlebt. Mein Roman "Am Ende bleiben die Zedern" war nie als Kommentar zur Flüchtlingsthematik gedacht, ich war ja schon mitten in der Romanarbeit, als das Thema groß wurde. Aber als das Buch 2016 erschien, traf es offenbar einen Nerv. Was mich damals überraschte, war, dass ich plötzlich überall als Deutsch-Libanese kategorisiert wurde. Plötzlich saß ich auf Podien und sollte über Fluchterfahrungen sprechen, obwohl ich gar keine habe. Es ist Fluch und Segen zugleich. Der verstärkte Fokus auf das Thema Migration verschafft Autoren wie mir Sichtbarkeit. Diese Sichtbarkeit ermöglicht uns ein Leben im Literaturbetrieb. Aber es gibt Momente, da wünsche ich mir, man würde Bücher wie meine mehr nach dramaturgischen, sprachlichen oder ästhetischen Maßstäben besprechen, mit weniger Fokus auf unsere Biografien.

Lilit wird gelobt, weil Sie "orientalische Mythen mit westlichen Gegenwartssymptomen verbindet". Hat das jemand über Sie geschrieben?
Nein, das habe ich erfunden. Aber natürlich wurde auch mein biografischer Hintergrund genommen, um dann Attribute heranzuziehen, die aber in diese Richtung gehen. Für manche scheine ich ein "orientalischer Erzähler" zu sein, was ich einigermaßen absurd finde. Was genau soll das sein? Das orientalische Erzählen ist eine mündliche Tradition. Wenn ich auf dem Marienplatz auf einer Obstkiste stehen und Geschichten erzählen würde, dann wäre das natürlich was anderes. Aber das Setting meiner Romane scheint offenbar auszureichen, um das Orient-Klischee zu bemühen. Ja, ich habe eine sehr bildreiche Sprache, aber ich könnte im selben Stil einen Roman schreiben, der in New York oder München spielt und niemand würde mich einen orientalischen Erzähler nennen. Ich habe immer gesagt, dass es das amerikanische Erzählen war, das mich im Schreiben geprägt hat. Ich liebe es, mich kleinen Figuren zu widmen und große Geschichten über sie zu erzählen. Das hat mich immer fasziniert.

Pierre Jarawan stellt "Frau im Mond" (Piper 496 Seiten, 26 Euro) am 29. April 2025 um 19 Uhr im Literaturhaus vor, begleitet vom Gesangs-Poeten Rabih Lahoud und dem Gitarristen und Oud-Spieler Matthias Kurth

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.