"Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben": Die Bananenkiste

Über ein Aufwachsen in Armut: "Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben" ein Essay von Lukas Bärfuss.
von  Oliver Pfohlmann
Lukas Bärfuss.
Lukas Bärfuss. © Foto: Boris Roessler / dpa

Seinen Nachkommen Schulden zu hinterlassen, war für die alten Römer kein Problem. Sie schufen sich einfach einen "Necessarius heres", einen Zwangserben, wie Lukas Bärfuss in den Schriften des römischen Juristen Gaius entdeckt hat. Das war in der Regel ein Sklave, der, ob er wollte oder nicht, nach dem Tod des Erblassers seine Freiheit bekam, zugleich aber dessen Erbe antreten musste.

"Ich war ja nicht verrückt"

Mit der für die Familie schönen Konsequenz, dass die Nachkommen des Verstorbenen von der "venditio bonorum", dem Ehrverlust durch antike Insolvenz, verschont blieben.

Als Lukas Bärfuss seinerzeit selbst das Erbe seines Vaters antreten sollte, das aus nichts als Schulden bestand, wählte er dagegen den zeitgemäßen Weg, wie er ein Vierteljahrhundert später schreibt: Er habe dieses Erbe einfach ausgeschlagen, denn "ich war ja nicht verrückt. Mit einem Brief an den Regierungsstatthalter teilte ich der Öffentlichkeit mit, dass ich auf alle Ansprüche verzichtete".

"Mit zugeschnürtem Hals"

An das damit verbundene Gefühl der Scham erinnert er sich freilich bis heute. "Es war demütigend, seine Schulden nicht bedienen zu können. Auch in meiner Gesellschaft, zweitausend Jahre nach dem lieben Gaius, blieb der Privatkonkurs ein Kainsmal."

Nur eine alte Bananenkiste mit letzten Lebenszeugnissen blieb Bärfuss damals von seinem Vater. Und selbst mit ihr habe er nichts zu tun haben wollen, bekennt Bärfuss in seinem neuen Buch, dem Essay "Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben". Warum nicht, das wird deutlich, als er ihren Inhalt beim Ausmisten der Wohnung inspiziert, "mit zugeschnürtem Hals" und, schließlich ist gerade Pandemie, bereitgelegten Gummihandschuhen.

 

Der Vater: das schwarze Schaf der Familie

Denn der zeitlebens glücklose Vater war das "schwarze Schaf" der Familie. Jahrelang saß er sogar im Gefängnis, wegen allerlei Betrügereien. Zu einer richtigen kriminellen Karriere habe ihm aber das Talent gefehlt, glaubt Bärfuss. Seine Mutter, die damals als Bardame arbeitete, tat alles, um ihren Sohn von ihrem Ex, dem "zwanghaften Lügner", fernzuhalten. Am Ende ließ sie ihren Sohn jedoch selbst im Stich:

Mit 15 Jahren bekam Bärfuss ein Stipendium für eine Volksschullehrerausbildung, Geld, das sein Leben damals hätte ändern können - und mit dem sich die Mutter auf- und davonmachte.

Eigener Drahtseilakt über dem Abgrund

So führt die "Examination" des Kisteninhalts vor allem zu einer unliebsamen, aber vielleicht überfälligen Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit: Denn der deprimierende Haufen aus vergilbten Mahnungen, Pfändungsankündigungen und Schreiben vom Konkursrichter an den toten Vater erinnert den heute 50-Jährigen an den eigenen allzu langen Drahtseilakt über dem Abgrund, an ein "Leben im Dreck" als Heranwachsender, zuletzt sogar auf der Straße, ehe eine Anstellung in einer Berner Buchhandlung es ihm ermöglichte, seinen Traum von einer Schriftstellerkarriere zu verwirklichen. Doch wie wenig gefehlt hat, um auch sein Leben im "Schuldturm" enden zu lassen, erkennt der Autor erst heute.

Bärfuss: Vorliebe für gesellschaftlich heiße Eisen

Schon seit einigen Jahren tritt der Büchnerpreisträger von 2019, der in seinen Romanen und Stücken kaum ein gesellschaftlich heißes Eisen ausgelassen hat, zunehmend auch als Essayist in Erscheinung. "Vaters Kiste" ist Bärfuss' bislang persönlichster Text und über weite Strecken berührend zu lesen. Doch wird auf seinen knapp hundert Seiten die eigene Lebens- und Familiengeschichte nicht um ihrer selbst willen erinnert.

Eigene Geschichte als Anlass zur Reflexion

Sie dient dem Autor nur als Anlass für weit ausgreifende Reflexionen: über die Bedeutung von Familie, über ein Aufwachsen in Armut unter den spezifisch schweizerischen Bedingungen oder die Frage, ob und wie man dem Zufall der eigenen Herkunft einen Sinn abtrotzen kann.

Das gelingt in der ersten Hälfte des Textes deutlich besser. Etwa, wenn es um die Frage geht, warum seine Mutter stets bemüht war, den Gang zum Sozialamt zu vermeiden. Dazu war das staatliche schweizerische Fürsorgesystem der 1970er noch viel zu sehr vom Gedankengut der Eugenik, dieser "besonders aggressiven Variante der Herkunftsobsession", bestimmt, erinnert Bärfuss.

Als alleinerziehende, in der "Halbwelt" arbeitende Mutter und dazu noch Tochter eines Roma-Vaters habe sie stets damit rechnen müssen, zum Wohle der Schweizer Gesellschaft weggesperrt zu werden.

Leicht verständlich ist daher auch, warum der unter diesen Vorzeichen aufgewachsene Autor selbst zeitlebens der Idee der Herkunft misstraute, dieser "Obsession, sich über seine Vorfahren zu definieren". Herkunftserzählungen, so Bärfuss, seien wenig mehr als zweckdienliche Konstruktionen und hätten in der Geschichte regelmäßig auf direktem Weg in Ideologien oder kriegsdienliche Mythologien geführt, siehe Hitlers Germanenkult oder aktuell Putins Panslawismus.

Der Vater als Geschichtenerzähler

Eine Überraschung hielt die väterliche Bananenkiste übrigens doch noch für den Sohn bereit. Nämlich die Erkenntnis, wie einfallsreich sein Vater ein ums andere Mal seine Vita frisierte, um seinen Gläubigern zu entkommen: dass er also letztlich ein Geschichtenerzähler war.


Lukas Bärfuss: "Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben" (Rowohlt, 96 Seiten, 18 Euro)

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