Tilman Spengler: "Es gibt nur eine Weltunordnung"

München - "Ihr Lebenswerk auf den kleinen Nenner von ein paar Zeilen zu bringen, verbietet sich eigentlich. Schließlich ist es gerade die kaum überblickbare Vielseitigkeit, das welt- und wortgewandte Ausschweifen, das Ihr Wirken so schillernd macht", schreibt Oberbürgermeister Dieter Reiter stimmig zum heutigen 75. Geburtstag von Tilman Spengler. "Universalgelehrter, Tausendsassa, Gesamtkunstwerk - das mag alles zutreffen und greift doch zu kurz." Der Bestsellerautor ("Lenins Hirn"), Sinologe und Publizist wurde ein prägender Intellektueller der Bundesrepublik.
Egal, ob Spengler Rückenschmerzen thematisierte ("Wenn Männer sich verheben. Eine Leidensgeschichte in 24 Wirbeln"), seine jahrzehntelange Freundschaft mit dem Maler Jörg Immendorff skizzierte ("Waghalsiger Versuch, in der Luft zu kleben"), oder im Fernsehen über 100 Werke der Weltliteratur sinnierte, stets überzeugte er durch feine Ironie und melancholisch grundierten Witz.
Im vergangenen Jahr schrieb Spengler mit dem Roman "Made in China" ein Schelmenstück über die Ursprünge der chinesischen Terrakottaarmee. Eine vergnügliche Erzählung über parallele Wahrheiten, die Kunst des Fälschens und die Löschung und Neuerfindung von Geschichte.
Und natürlich verfolgt er noch immer gebannt die aktuelle Weltlage, vor allem, wie China auf Russlands Einmarsch in der Ukraine reagiert.
AZ: Herr Spengler, nachdem der Westen Russland nun deutlich die Tür zuschlägt, vermuten Beobachter, dass PutIn nur noch eine stärkere Bindung an China bleibt. Ist das so einfach?
TILMAN SPENGLER: Das mag auch für Putin so aussehen. Aber einfach wird die Geschichte dadurch nicht. Wer ein wenig in die Geschichtsbücher blickt, stößt schnell auf Passagen, die davon berichten, wie konfliktreich schon zu Sowjetzeiten die Beziehungen zwischen den beiden Staaten waren. Zu bieten hat Putin nur die eigenen Rohstoffe und vielleicht das Versprechen, künftig die Finger von den Quellen in Turkmenistan und Usbekistan zu lassen. Als Markt für den Export ist Russland für China nur von nachgeordneter Wichtigkeit. Und aktuell wird Russland hinter vorgehaltener Hand wohl eher als Störenfried betrachtet, weil durch seine mörderische Stümperei in der Ukraine wichtige internationale Lieferketten unterbrochen werden und auch in China die Zinsen steigen werden. Das mag man dort überhaupt nicht, gerade jetzt, wo die Wirtschaft wackelt.
Ukraine: Chinesische Parteizeitung stellte Russland-Berichte über Tage ein
Was lief schief?
Noch während der Winterolympiade schlossen Xi Jinping und Putin ein Bündnis, das sehr verkürzt gesagt bedeutete: Ihr Russen macht in der Ukraine, was ihr wollt, dafür dürfen wir Chinesen mit Taiwan verfahren, wie es uns gefällt. Aber offenbar erfuhr Xi nicht das genaue Datum des russischen Überfalls und mit der Dauer und der damit verbundenen Empörung weltweit und besonders im Westen wird er auch nicht gerechnet haben. Der Westen ist schließlich der wichtigste Handelspartner. Es ist bestimmt kein Zufall, dass die chinesische Parteizeitung über Tage ihre Russland Berichterstattung einstellte.
Weiß man von anderen Reaktionen?
In den sozialen Medien gab es zunächst überraschend lautstarke Proteste, bis hier wieder die gefürchtete digitale Brandmauer hochgezogen wurde. Die Parteizeitung druckte übrigens in ihrer internationalen Version eine Stellungnahme, die die russische Sicht wiedergab, in der chinesischen Fassung aber eine Erklärung, die man fast als Unterstützung der Ukraine und ihrer Souveränität deuten könnte.
"Souveränität und territoriale Integrität aller Staaten sind heilig"
Warum kann sich China nicht deutlich und offener gegen Putins Angriffskrieg aussprechen?
Präsident Xi hat sich so früh auf die russische Erzählweise von der aggressiven, von den USA betriebenen Nato Erweiterung festgelegt, so dass er jetzt gewaltig an Gesicht verlöre, wenn er plötzlich ein ganz neues Storyboard ins Spiel brächte. Seine Enthaltung bei der Resolution im Weltsicherheitsrat, als es um die Verurteilung der russischen Invasion ging, ließ aber schon darauf schließen, dass hier vielleicht noch nicht alle Messen gelesen sind. Das zentrale Dogma der chinesischen Außenpolitik lautet nämlich: Souveränität und territoriale Integrität aller Staaten sind heilig. Wie man dieses Dogma mit der Bombardierung und Eroberung eines friedlichen Landes in Einklang bringen kann, dürfte auch Virtuosen der chinesischen Weisheit verborgen bleiben.
Und was spielt dabei die Wirtschaft für eine Rolle?
Nicht nur die Wirtschaft im klassischen Sinne. Man muss auch an Wissenschaft, Technik und andere Lebensbereiche denken. Die Führer der Volksrepublik wollen sich zivilisatorisch nicht am Standard russischer Öl- oder Erdgashändler messen. Nein das erstrebte, das sogar zu übertreffende Niveau liegt schon im Westen, in den USA und in Europa. Und genau hier liegt das zentrale Dilemma: Diesen Konkurrenten muss man immer auch ein wenig als Partner in Betracht ziehen. Mit Putin steht man da an der Seite der Trampel.
Gibt es also die Möglichkeit, China zu einer stärkeren Anti-Putin-Haltung zu verleiten?
Im Augenblick halte ich das für westliches Wunschdenken. Jedenfalls was öffentliche Auftritte angeht. Die chinesische Außenpolitik wird sehr pragmatisch nach dem Nutzen für die chinesischen Interessen abgewogen. Moralische Gesichtspunkte spielen dabei nur als Papierblumen eine Rolle.
Bedeutet die "Zeitenwende", die nun in Europa beschworen wird, dass sich die EU auch gegenüber China deutlich härter positionieren wird?
Diese Frage sollten man der europäischen Exportwirtschaft stellen, die ja auch gern behauptet, mit Politik so wenig zutun zu haben wie das IOC. Und was Boykotte für Menschenrechte angeht, empfehle ich einen Blick auf Katar oder Saudi-Arabien.
Stehen wir vor einer neuen Weltordnung?
Dieser jetzt so volkstümliche Begriff spendet nur kärglichen Trost, weil das Wort "Ordnung" eine Stabilität vorgaukelt, die sich in der erlebten Wirklichkeit nicht wiederfindet. Nein, es gibt Unordnung und vielleicht die einen oder anderen Hoffnungsträger.