Sulzers Roman "Doppelleben": Unter den Lupenaugen

München - Unser Leben ist letzten Monat in die Brüche gegangen durch die Krankheit und den Tod unserer alten Kinderfrau", schrieben die Brüder Jules und Edmond de Goncourt am 7. September 1862 an ihren Freund Gustave Flaubert.
Aber einige Zeit später sollte es eine weitere Erschütterung in ihrem Leben geben. Denn Rose, die über 22 Jahre den Haushalt der beiden Junggesellen bestellt hatte, Jule seit dem siebten und Edmond seit dem 15. Lebensjahr kannte, hatte unbemerkt von den beiden Chronisten des Pariser Kulturlebens ein "Doppelleben" geführt, wie es der Schweizer Autor Alain Claude Sulzer in seinem gleichnamigen Roman ausbreitet.
Gebrüder Goncourt sind in der Welt der Bücher gefangen
Den "Lupenaugen" der Goncourts, die in ihren Tagebüchern mit spitzer Feder und legendärem Spott die Kulturbohème porträtieren, war ausgerechnet die Person entgangen, der sie räumlich am nächsten waren. Nichts hatten sie bemerkt von der Alkoholsucht ihrer Haushälterin und miserablen Köchin (ein geflügelter Witz unter den Brüdern). Nicht einmal, dass sie schwanger war von Alexandre, Sohn der Krämerin, war den in ihrer Buchwelt lebenden Brüdern aufgefallen.
Rose investiert ihr gesamtes Geld, damit er einen Laden als Handschuhmacher eröffnen kann. Er belohnt sie dafür mit wachsender Verachtung. Selbst das gemeinsame Kind, das bei einer Amme außerhalb von Paris aufwächst, schaut er sich nur ein einziges Mal an. "Das Buch ihrer Erniedrigungen wurde täglich umfangreicher", schreibt Sulzer. Da Alexandre aber weiterhin finanzielle Forderungen stellt, verschuldet sich Rose nicht nur, sie greift auch in die Haushaltskasse der Goncourts. Als Roses Kind stirbt, taumelt sie völlig haltlos von einem flüchtigen Liebhaber zum nächsten.
"Doppelleben": Von Beginn an liegt der Todeshauch über Sulzers Roman
Die Goncourts erfahren erst viel später von ihrem wahren Schicksal, ihrer obsessiven und zum Scheitern verurteilten Liebe und verarbeiten Roses Schicksal in dem Roman "Germinie Lacerteux". Flaubert reagiert enthusiastisch: "Meine Teuren, Ich habe Ihren Band erst gestern abend zu Gesicht bekommen", schrieb er den Brüdern am 16. Januar 1865. "Um halb elf aufgeschnitten, war er um 3 Uhr verschlungen. (...) Was für ein ungeheuerer Schmöker!"
Die Öffentlichkeit und die Literaturkritik reagierten allerdings äußerst ablehnend auf diesen Roman über die "Kleopatra der Gosse". Nur der junge und noch völlig unbekannte Émile Zola lässt in einer Lyoner Zeitung seiner Bewunderung freien Lauf. Von Beginn an liegt der Todeshauch über Sulzers Roman. Die Goncourts verlieren früh ihren Vater und ihre beiden Schwestern, am Totenbett der Mutter verspricht Edmond, seinen jüngeren Bruder nie im Stich zu lassen.
Sulzers dramatisches Epochengemälde lebt auch von der Eleganz seiner Sprache
Tatsächlich sollten sie in ihrem Leben alles teilen, vom Tagebuch bis hin zu gelegentlichen Mätressen. Eine ungemein produktive künstlerische Symbiose. Doch dann schlägt das Schicksal unbarmherzig zu: Jules' Verstand schwindet als Folge der Syphillis, die er sich als junger Mann in einem Bordell geholt hatte.
Die Salonbesuche der Brüder werden spärlicher, schließlich wagt es Edmond nicht mehr, seinen Bruder in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das Tagebuchschreiben hat er ohne die "empfindsame Seite ihres Zusammenspiels" - wie Sulzer es nennt - längst eingestellt.
Aus Verzweiflung versucht er, den Bruder (und sich selbst) zu töten, scheitert aber. Der Tod durch einen Schlaganfall im Jahr 1870 ist eine Erlösung. Edmond wird den acht Jahre jüngeren Bruder noch 26 Jahre überleben.
Sulzers dramatisches Epochengemälde lebt auch von der Eleganz seiner Sprache. Mit untrüglichem Gespür für Details lässt er die Zeit unter Napoleon III. aufleben, die kurz nach Jules' Tod mit dem Krieg gegen Deutschland selbst ein Ende findet.
Alain Claude Sulzer stellt "Doppelleben" (Galiani, 294 Seiten, 23 Euro) am 19. Januar um 20 Uhr im Literaturhaus (Bibliothek) vor.