Steve McCurry über "Devotion"
Das "Afghanische Mädchen", das er 1984 in einem Flüchtlingscamp fotografierte, machte ihn berühmt. Steve McCurrys Werk freilich ist enorm umfangreich und vielfältig. Gerade hat er einen Bildband veröffentlicht, der Menschen zeigt, die sich einer Sache verschrieben haben. Dem Gebet etwa oder der Menschenrettung oder der Zuwendung zum Partner.
AZ: Mr. McCurry, welches ist das erste Bild, das Sie gestern in München gemacht haben?
STEVE MCCURRY: Das erste Bild oder das erste gute Bild? Ich habe es auf jeden Fall mit dem iPhone gemacht (wischt durch die Bilder auf seinem Telefon). Es sind zwei Bilder: mein Hotelzimmer. Und ich habe eine sechsjährige Tochter (ein Bild zeigt ein strahlendes Mädchen, das dem Betrachter die Zunge herausstreckt).
Wie viele Bilder machen Sie am Tag, wenn Sie nicht auf einer Mission unterwegs sind?
Mein ganzes Leben ist eine Mission. Vielleicht zehn oder 20, 30. Wenn ich arbeite, können es Hunderte sein.
Finden Sie auch an Orten, die Sie gut kennen, immer noch etwas Neues?
Es gibt Orte, die einen inspirieren. Ich habe am Washington Square Garden in Philadelphia gewohnt und bin nahezu jeden Tag hingegangen und habe Menschen fotografiert beim Spielen, beim Lesen, was immer Menschen im Park so machen. Gerade weil man den Ort so gut kennt, wird man anspruchsvoller. Ich gehe gerne an denselben Ort zurück. Nehmen Sie den Taj Mahal, millionenfach fotografiert. Wunderschön, episch. Wenn Sie es schaffen, ihn auf eine andere Weise anzuschauen, aus einem anderen Winkel, dann lohnt es sich.
Sie zeigen auf Ihren Bildern, dass es das Besondere an Orten gibt, an denen man es nicht erwarten würde.
Gehen Sie an einen Ort, der dieses gewisse hat, einen Ort, an den Sie auch ohne Kamera gehen wollen. Es geht im Leben nicht ums Fotografieren, es geht ums Erforschen, Entdecken, Lernen. Alles kann ein Foto werden. Man fängt an Orten an, die optisch interessant sind.
"Devotion. Hingabe" versammelt Bilder aus den vergangenen vier Jahrzehnten. Sie haben Hunderttausende von Aufnahmen in Ihrem Archiv - wie gehen Sie an die Aufgabe heran, ein Buch zusammenzustellen?
Alle meine Bilder sind verschlagwortet. Und ich erinnere mich an die Situationen, die Orte auf meinen Reisen, die zu dem Thema passen. Ich gehe diese Bilder also noch einmal unter dem Aspekt durch.
Sie haben bei Ihrer Arbeit unzählige Menschen und Kulturen kennengelernt. Nun können Sie ja nicht einfach in ein Shaolin-Kloster gehen und sagen, Sie möchten mal ein Foto machen. Wie bereiten Sie sich vor?
Es ist erst einmal Forschung, dann muss ich einen Assistenten finden, der die Sprache spricht, Genehmigungen einholen kann und den Menschen sagt, was der Zweck meines Besuchs ist. Einige der Bilder wurden nicht gemacht mit der Idee der Hingabe.
Wie viele Bilder in "Devotion" sind zufällig entstanden, wie viele geplant?
Grob geschätzt sind drei Viertel zufällig entstanden. Bei den anderen brauchte ich zum Beispiel eine Genehmigung, in ein Kloster oder ein Krankenhaus zu gehen. Ich habe mal eine Gruppe Nonnen fotografiert. Ich sah sie eines Morgens auf dem Weg zum Markt und bat meinen Assistenten, die Oberin um Erlaubnis zu fragen. Sie sagen immer ja. Man muss respektvoll sein und eine gewisse Vertrauenswürdigkeit haben. Ich will sie ja nicht stalken.
Ist es leichter, Menschen beispielsweise in Indien zu fotografieren als im Westen?
Ja, die Leute dort sind weniger misstrauisch, offener. Fotografier mein Kind, kein Problem. Die Leute im Westen sind skeptischer.
Nach dem Studium sind Sie durch Indien gereist. Das klingt ein wenig nach einem Einsamer-Cowboy-Job. Ist es das?
Die Zwei-Jahre-Reise nach Indien habe ich mit einer Freundin gemacht, vorher war ich aber allein in Afrika und Lateinamerika. Einsam fühlte ich mich vielleicht mal drei oder vier Tage, etwa in Afghanistan. Ich sehe das Alleinsein nicht als etwas Negatives. Ich arbeite bis heute meistens alleine.
Man sieht einem Bild nicht immer an, ob es unter gefährlichen Umständen entstanden ist. Gab es schon Bilder, vielleicht auch in "Devotion", bei denen Sie hinterher dachten: Ui, das war knapp?
Das war vor allem in Afghanistan so, an Orten, wo gekämpft wurde. Ich war nie ein Kriegsfotograf, aber manchmal ist es unvorhersehbar. Das ist einige Male passiert, und es ist beängstigend.
Ein Bild in "Devotion" fiel mir besonders auf: der Feuerwehrmann im Einsatz in den Trümmern von 9/11. Die meisten anderen zeigen eher Einkehr und Innerlichkeit. Ist das auch für Sie ein besonderes Bild?
Feuerwehrleute, Mediziner, Rotes Kreuz, Ärzte ohne Grenzen, das sind alles Leute, die ein angenehmes Leben in den Vororten führen könnten. Und doch geben sie dieses komfortable Leben auf, um aus irgendwelchen Gründen ihren Mitmenschen zu helfen. Das ist ein besonderer Typ Mensch. Gott sei Dank gibt es Menschen auf der Welt, die das tun.
Nach diversen Reisen um die Erde, nach so vielen Treffen mit so vielen Menschen: Sehen Sie die Welt heller oder dunkler?
Wenn man den Planeten betrachtet und die Energie, die Zeit, die Ressourcen, die wir aufgebracht haben mit dem Ziel, uns selbst und einander umzubringen, ist es schwer, optimistisch zu sein. Aber es gibt auch viele Menschen, die versuchen, andere zu schützen, den Planeten aufzuräumen. Es ist ein Ringen zwischen den Menschen, die die Welt kaputtmachen, und denen, die sie retten wollen.
Wie wichtig ist Vertrauen - in beide Richtungen - bei Ihrer Arbeit?
Es ist ein wichtiges Element. Man muss schnell eine Verbindung zu den Menschen aufbauen. Und ich muss ihnen klarmachen, dass das, was wir machen, positiv ist. Ich glaube, Menschen können deine Absichten spüren, auch, was für ein Typ Mensch du bist. Man muss einerseits Zuversicht haben, aber es gibt auch eine Art animalischen Instinkt, eine nichtverbale Kommunikation. Vertrauen ist alles, egal ob du in einem Wohnhaus oder einem Krankenhaus fotografierst oder jemanden auf der Straße - vor allem, wenn es eine intime Situation ist.
Würden Sie, nach all Ihren Erfahrungen, zum Beispiel Ihrer Tochter raten, zu tun, was Sie getan haben?
Ich sage ihr: Tu, was immer du willst. Ich würde sie niemals entmutigen. Ich glaube, man kann immer nur Ratschläge geben und sagen: Bereite dich vor. Man muss es wirklich wollen. Das ist ein Rat, den ich einem jungen Fotografen mal gegeben habe: Du musst es machen. Wenn ich dir sage, tu es nicht, dann machst du es trotzdem, weil du es tun musst. Das sind die Menschen, die Leidenschaft haben.
Sie haben so viel gesehen, Elend ebenso wie Freude - ist es Optimismus, der Sie antreibt?
Manchmal sehe ich etwas Besonderes, etwas, das ich feiern möchte, über das ich reden oder das ich zeigen möchte. Etwas, das ich sehr wichtig finde. Manchmal ist es das Gegenteil: Das ist eine schlimme Sache, von der die Menschen wissen müssen. Vielleicht sagt dann ja irgendjemand: Ich weiß, wie man damit umgehen muss oder wie man eine Sache lösen kann. Schreiber, Fotografen, Videografen versuchen, die Menschen über die Welt, in der wir leben, zu informieren. Wie sollen die Menschen sonst informiert werden?
Ich habe bei der Vorbereitung auf dieses Gespräch einen Film gesehen, der erzählt, wie Sie sich fast 20 Jahre nach Ihrem legendären Foto von Sharbat Gula, dem "Afghanischen Mädchen", auf die Suche nach ihr machen. Sie haben ja später sogar eine Stiftung für sie und andere Kinder in Afghanistan eingerichtet.
Ich habe, gemeinsam mit meiner Schwester, ein Projekt initiiert, das Schüler und Lehrer mit Lehrbüchern ausstattet. Am Ende haben wir ein Foto-Programm für junge afghanische Mädchen gemacht, die stehen ganz unten in der sozialen Skala, und wir wollten ihnen eine kreative Ausdrucksmöglichkeit geben. Das haben wir gemacht, bis die Taliban an die Macht kamen. Nun unterstützen wir eine Art Untergrund-Schulen, die von der Regierung nicht zugelassen sind. Mädchen können zur Schule gehen, bis sie zwölf sind. Und wir versuchen, die anschließende Lücke zu schließen. Es ist nur ein Tropfen im Eimer.
Welche negativen Begegnungen hatten Sie?
Das passierte immer mal wieder. Ich wurde ausgeraubt, auf mich wurde geschossen. So läuft das. In der Ukraine kannst du ständig von einer Rakete getroffen werden. Wenn du entscheidest, hinzugehen, darfst du nicht ängstlich sein, du musst voll reingehen. An 9/11 dachte ich: Jemand muss das festhalten. So bin ich. Also bin ich hingegangen. Andere Gebäude drohten einzustürzen, die Luftqualität war schrecklich. Aber selbst wenn ich getötet werde: Ich muss es tun. Ich kann es nicht nicht tun. Es ist besser, getötet zu werden bei etwas, das man tun muss, als ängstlich zu sein und mit dem Gedanken zu leben: Ich hätte es tun sollen.
Steve McCurry: "Devotion.Hingabe" (Prestel-Verlag, 208 Seiten, 49 Euro)
- Themen:
- Rotes Kreuz