Selges "Beethovn": Die Wahrheit von der Seite
Wer sich in der Musikgeschichte ein wenig auskennt, den berühren Künstlerromane wie Franz Werfels "Verdi" oder Julian Barnes' Schostakowitsch-Roman "Der Lärm der Zeit" stets etwas peinlich. Es bleibt klebrig, wenn sich ein Schriftsteller in das Innenleben von Verdi oder Mozart und den Prozess des Komponierens hineinzuversetzen trachtet. Oft stimmen schon der Dichtkunst zuliebe die blanken Fakten nicht.
Der anläßlich des Jubel- und Jubliäumsjahr erschienene Roman "Beethovn" von Albrecht Selge vermeidet beide Fehler. Und nein, der Titel ist kein Druckfehler. Die seltsame Schreibung ist das Programm dieses angenehm knappen Buches, in dem eine Menge Figuren auftreten, die Beethoven wie Planeten (oder Mücken) umkreisen. Aber zur Sonne dringt niemand vor.
Beethovens Reise nach Wien im Roman
Beethoven schläft allenfalls, oder er geht gerade unbemerkt um die Ecke. Er wird nur aus der Sicht anderer Figuren geschildert, und deshalb gibt es so viele Beethovens wie Schreibungen des Namens in der Zeit vor einer normierten Rechtschreibung.
Selges Roman beginnt - ähnlich wie Richard Wagners Beethoven-Novelle - mit der Reise eines jungen Komponisten nach Wien. Louis Schlösser besucht zwar eine Vorstellung von "Fidelio" mit Wilhelmine Schröder-Devrient. Aber er erkennt Beethoven beim Verlassen des Theaters nicht einmal, und weil der Komponist ständig umzieht, scheitern alle Versuche, ihn zu besuchen.
Dafür lernt Schlösser einen jungen Kollegen kennen, der "auf frohe Weise Leichenbittermiene" macht. Selge überlässt dankenswerterweise dem Leser den Schluss, dass es sich um Franz Schubert handelt, der als Leitmotiv durch den Roman geistert. Schlösser hat es wirklich gegeben, Grillparzer und andere in diesem Roman auftretende Personen aus Beethovens Umfeld natürlich auch. Andere hat Selge erfunden, wie etwa eine Prostituierte, die sich nur noch schwach an Beethovens Besuche erinnert und einen Geheimpolizisten, der den Komponisten in einem Kaffeehaus beobachtet.
Auf das erste, realistische Kapitel folgt ein fantastisches, bei dem eine Untote das Arbeitszimmer Beethovens durchstöbert, bis sich herausstellt, dass es sich um Josyne van Beethoven handelt, die 1595 auf dem Hauptmarkt von Brüssel als Hexe verbrannt wurde - eine Vorfahrin des Komponisten, von der bisher nur die Wenigsten gehört haben dürften.
Der Roman trägt seine Belesenheit nicht vor sich her
Selge versteht viel von Musik, das Historische hat er gründlich recherchiert. Falls sich jemand über die auf den ersten Seiten erwähnte Gasbeleuchtung anno 1822 in der Umgebung des Kärntnertortheaters wundert: Die hat es tatsächlich schon so früh gegeben.
Der Roman trägt seine Belesenheit nicht vor sich her, sondern entwirft ein atmosphärisch dichtes Bild des Wiener Biedermeier, wie man es aus der neueren Schubert-Literatur kennt. Die bleierne Beklemmung der Ära Metternich demonstriert Selge an den verkorksten Lebensgeschichten von Beethovens Neffen Karl und der "unsterblichen Geliebten" Josephine Brunswick. Weil der Komponist keine standesgemäße Partie war, heiratete sie zweimal einen anderen Mann und wurde mit beiden todunglücklich.
Ein Insider-Witz für die Twitter-Follower
"Beethovn" ist bei aller Genauigkeit kein Dokumentarroman. Selge liebt altmodische Begriffe, er schreibt witzig, poetisch und anspielungsreich. Die Uraufführung der Neunten schildert er aus der Perspektive eines gewissen Alex Leverkuhn, womit nicht nur die Wirkungsgeschichte Beethovens in Thomas Manns "Doktor Faustus", sondern über den Vornamen auch Stanley Kubricks Beethoven-Hommage im Film "A Clockwork Orange" abgedeckt wird. Diese Weite des Blicks bis zur Popkultur tut dem eher steifen Thema gut. Und weil der vielstimmige Ansatz Selges im Grunde postmodern ist, wagt der Autor am Ende sogar ein paar experimentell leere Seiten, auf die der Leser selbst projizieren darf, wie Beethoven gegessen und getrunken hat und wie er gestorben ist.
Zuletzt fährt ein Gehweg-Radler beinahe ein kleines Mädchen um. Das ist ein Insider-Witz für alle, die dem Autor auf Twitter folgen und wissen, dass Selge gerne die autolastige Berliner Verkehrspolitik kritisiert. Man nehme das als Beispiel dafür, wie frisch und unkonventionell dieses Buch gelungen ist. Wäre es übertrieben, "Beethovn" als beste Hervorbringung des Jubiläumsjahrs zu bezeichnen?
Vielleicht. Aber angesichts der vielen mäßigen Musiker-Romane stehen wir hier und können nicht anders: Der bisher beste Beethoven-Roman ist es auf jeden Fall. Es wird schwer, ihn einzuholen oder gar zu überholen.
Albrecht Selge: "Beethovn" (Rowohlt, 238 Seiten, 22 Euro, auch als E-Book)