Kritik

Schmöker mit Sogwirkung: Matteo Melchiorres "Der letzte Cimamonte"

Der italienische Schriftsteller hat einen bemerkenswerten Debütroman vorgelegt
von  Roberta De Righi
Der italienische Autor Matteo Melchiorre.
Der italienische Autor Matteo Melchiorre. © Alberto Bogo

Der "Duca", Herzog, wird er genannt, der Herr der Villa über Vallorgàna, halb ehrfürchtig, halb spöttisch. Von seinen Ahnen hat der junge Mann den Besitz, nicht aber die Autorität geerbt. Matteo Melchiorres jetzt auf Deutsch erschienener Debütroman "Der letzte Cimamonte" (Atlantis Verlag, 496 Seiten, 26 Euro) erzählt von einer aussterbenden Spezies und von einer Welt, in der sich alles zu ändern scheint - und doch so bleibt, wie es ist?

Der Ich-Erzähler, der durch den Unfalltod seiner Eltern früh Waise wurde, führt ein zurückgezogenes Leben und interessiert sich mehr für die alten Urkunden und Skripte im Archiv der Villa als für seine Ländereien - und die Menschen. Im Dorf hat er nur wenige Vertraute: Da sind Nelso Tabióna, der "König der Holzfäller", Dina Cristi, die alte Haushälterin, und vielleicht noch Rubino, der Barista. Sein ärgster Feind indes ist der Großbauer und Unternehmer Mario Fastréda, der heimliche Herrscher von Vallorgàna. Und dann gibt es noch dessen Enkelin Maria.

Ein epochenübergreifendes Familiengemälde

Außerdem sind da die Villa, der Wald, der Berg - weniger Kulisse, denn Protagonisten des aufziehenden Dramas. "Doch die dichteste Dunkelheit lag wie immer hinter meinem Rücken, hinter der Villa, wo die pechschwarze, dräuende Masse des Berges abrupt zwischen Graten und Hängen aufragt. Breit und konkav, bewaldet, Tor zu weiteren Bergen, die immer schroffer werden, bis sie nur noch Stein sind, dieser Berg, der als ,der Berg' bezeichnet wird, als wäre er der einzige seiner Art, ist für uns in Vallorgàna eine unausweichliche Gegenwart."

Es sind große Fußstapfen, in die der 1981 geborene Historiker und Bibliothekar mit seinem epischen Roman tritt, man muss an Klassiker der italienischen Literatur denken. Melchiorre entwirft in altertümlich klingender, aber nie manierierter Sprache ein epochenübergreifendes Familien-, Gesellschafts- und Landschaftsgemälde. Mehr Stillleben mit Solitären als Gruppenporträt. Und in Worte gefasst, die mitunter wuchern und wogen, wie die Bäume der dichten Wälder im Wind.

Der große Sturm ändert alles

Vallorgàna, das Bergdorf im Val Fonda ist ein fiktiver Ort, ebenso wie die nächstgelegene größere Stadt Berua in der Ebene. Doch den Schilderungen zufolge kann man sich gut vorstellen, dass die julisch-venetische Heimat Melchiorres dafür Pate stand.

Und er setzt klare Prioritäten: Er verbindet die Chronik der Cimamonte mit einer Dorf-Saga, gibt (sozial-)historischen Betrachtungen ebenso viel Raum wie den Naturbeschreibungen. Allein die Liebesgeschichte bleibt, wenn sie sich auch über weite Strecken des Buches zieht, skizziert.

Von Glanz und Schrecken der Vorväter bleibt dem Duca nichts, dafür umso mehr von ihrem auf Ausbeutung basierenden Reichtum. Mario Fastréda ist es, der mit einer eigenmächtigen Abholz-Aktion auf uraltem Cimamonte-Grund für die kalkulierte Provokation sorgt und den Plot ins Rollen bringt. Und damit ungeahnte Charakterzüge hervorholt und andere anachronistische Verhaltensweisen heraufbeschwört.

Wenn Wälder wie Streichhölzer fallen

Melchiorre schuf einen Schmöker mit Sogwirkung, in den man seitenweise abtauchen kann. Und auch wenn er zunächst aus der Zeit gefallen zu sein scheint, so wird doch die Gegenwart verhandelt. Als der große Sturm kommt, der die Wälder wie Streichhölzer fallen lässt, und das Dorf wie auch die Villa verwüstet zurücklässt, hat das die unermessliche Gewalt der im Zeichen der Klimakrise heute schon fast normalen Unwetterkatastrophen.

Und wenn der letzte Cimamonte, zunächst befremdlich, von den Eigenschaften seines adeligen "Blutes" spricht, ist er sich schon bewusst, dass es die Gene sind, die auch das böse Erbe der Vorfahren weitertragen. Der Ich-Erzähler ist dabei alles andere als eine Identifikationsfigur, Matteo Melchiorre zeichnet ihn als ambivalente Persönlichkeit mit hehren Idealen und charakterlichen Schwächen, von denen ein tiefliegender Hochmut nur eine ist. Der Duca bleibt unnahbar. Eine Silhouette am Abgrund, der den schmalen Steig von der Vergangenheit in eine kaum möglich erscheinende Zukunft sucht.

Matteo Melchiorre: "Der letzte Cimamonte" (Atlantis Verlag, 496 Seiten, 26 Euro)

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