Interview

"Projekt Cassandra" von Jürgen Wertheimer: Die Bomben fallen zuerst im Buch

Kann Literatur die Zukunft vorhersagen? Jürgen Wertheimer ist davon fest überzeugt – und liefert mit seinem "Projekt Cassandra" schlagende Beweise.
von  Christa Sigg
Alles schon mal dagewesen – und vorhersehbar: Ein Soldat evakuiert einen afghanischen Buben nach einem Angriff der Taliban in Kabul – im November 2005.
Alles schon mal dagewesen – und vorhersehbar: Ein Soldat evakuiert einen afghanischen Buben nach einem Angriff der Taliban in Kabul – im November 2005. © Syed Jan Sabawoon/epa

Umwerfend schön war Prinzessin Kassandra. Apoll verliebte sich in die Trojanerin und beschenkte sie mit der Gabe, die Zukunft vorauszusehen. Doch weil Kassandra den schmachtenden Gott abblitzen ließ, rächte der sich mit einem Fluch: Niemand sollte ihren Vorhersagen glauben. Aber so geht es ja auch vielen Mahnern und Kritikern. Deshalb hat der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer die Wahrsagerin zur Namensgeberin seines Lebensprojekts gemacht: nämlich künftige Krisen und Konflikte zu benennen – durch die Lektüre von Büchern. Das funktioniert verblüffend gut, nur fehlt inzwischen das Geld.

Der 1947 in München geborene Hochschullehrer Jürgen Wertheimer hatte bis 2015 eine Professur für Neuere Deutsche Literatur und Komparatistik in Tübingen.
Der 1947 in München geborene Hochschullehrer Jürgen Wertheimer hatte bis 2015 eine Professur für Neuere Deutsche Literatur und Komparatistik in Tübingen. © Jörg Jäger

AZ: Herr Wertheimer, Ihr Buch trägt den Titel "Sorry Cassandra" – mögen Sie Abba?
JÜRGEN WERTHEIMER: Dieser Song hat mich einfach verblüfft. Niemand sonst hat sich je bei Kassandra dafür entschuldigt, dass man blind für die Realität war.

Jürgen Wertheimer will den "Fluch der Kassandra" brechen

Am Ende hat sie ja Recht, aber bis heute ein schlechtes Image als Unke, Schwarzseherin und Spielverderberin.
Deshalb wurde mir oft von diesem Namen abgeraten. Aber wir arbeiten jetzt fünf Jahre am Projekt Cassandra, und es geht uns wie Abba darum, den sprichwörtlichen "Fluch der Kassandra" zu brechen und die Menschen empfindlicher und empfänglicher für Vorzeichen von Bedrohungen zu machen. Kassandra hat ja nichts mit einem Orakel oder mit Kaffeesatzleserei zu tun. Vermutlich hat sie nur die Lage scharfsichtig erkundet – nahe beim Lager der Griechen – und ihre Schlüsse gezogen. Doch im Gegensatz zu anderen, die oft auch ein Problem sehen und dennoch schweigen, hat sie deutliche Worte gefunden und den Sachverhalt kommuniziert.

"Offensichtlichste Signale werden oft systematisch übersehen und negiert"

Die aktuellen Mahner und Spaßbremsen sind Virologen und Politiker, denn viele würden lieber Party feiern.
Nicht nur die, sondern auch jene, die etwa vor Putin warnen, vor dem Klimawandel, vor möglichen Folgen der Künstlichen Intelligenz oder gentechnologischer Experimente. In meinem Buch habe ich das Phänomen des inneren Widerstands gegen Wirklichkeitswahrnehmung festgemacht. Aber ein Blick in "Biedermann und die Brandstifter" von Max Frisch genügt. Offensichtlichste Signale werden oft aus einer Mischung aus Höflichkeit, Trägheit, Diplomatie, "Professionalität" und Bequemlichkeit systematisch übersehen und negiert. Auf der anderen Seite geht derjenige, der auf Signale und Warnungen reagiert, tatsächlich ein Risiko ein. Denn er kann sich täuschen und damit blamieren. Wer nichts tut, kann auch nichts falsch machen. Deshalb verhalten wir uns oft törichter, als wir sind.

Sie finden in der Literatur Vorboten für Katastrophen und Kriege. Gab es einen konkreten Anlass, das im großen Stil zu untersuchen?
Mein persönlicher Anstoß war nicht nur das großartige Kassandra-Buch von Christa Wolf, sondern zwei einschneidende Ereignisse der 90er Jahre: das Massaker von Srebrenica während des Bosnienkriegs im Juli 1995, bei dem über 8.000 Bosniaken erschossen wurden. Damals war längst bekannt, was geschehen würde. Aber man hat es vorgezogen, gaffend daneben zu stehen und sich nachher betroffen zu geben.

"Heinrich Mann hat im 'Untertan' die NS-Täter präzise beschrieben"

Der andere Anlass war der fast gleichzeitige Genozid in Ruanda zwischen den Hutu und Tutsi, dem in wenigen Monaten mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen. Auch hier war die Kommunikation im Vorfeld eindeutig, und man konnte in den Medien monatelang verfolgen, wie die Menschen systematisch aufgewiegelt wurden. Es wurde erklärt, dass man mit der anderen Ethnie unmöglich zusammenleben könne. Und die Literatur schildert akribisch, was sich zusammenbraut, wie und warum es geschieht.

Eine Entscheidung während eines Prozesses zu treffen, ist trotzdem nicht einfach.
Es ist schwierig, aber nicht unmöglich. Entscheidend ist, im Vorfeld zu reagieren, nicht im Moment der Eskalation. Nehmen Sie den "Untertan" von Heinrich Mann. Dort wird bereits in den 1920er Jahren das Profil der späteren NS-Täter halluzinatorisch präzise vorausgesehen – und die Zensurbehörden haben es durchaus verstanden. Das Buch wurde praktisch aus dem Verkehr gezogen. Wir alle müssen wieder lernen zu lesen, genau zu lesen und gegebenenfalls schnell zu reagieren.

Die Zensoren scheinen überhaupt zu wittern, wenn "Gefahr im Verzug ist".
Allerdings. In der Region Bergkarabach, wo es vor wenigen Monaten schwere Auseinandersetzungen gab, hatte man kurz zuvor zwei Bücher vom Markt genommen, die bis dahin extrem erfolgreich waren und für eine Vermischung der Kulturen plädierten. Wenig später begannen die Kampfhandlungen. Neben der Textanalyse sondieren wir deshalb auch den Markt und die mediale Kommunikation: Was hat Erfolg, was wird verboten? Was wird wie kritisiert und gesteuert? Aus der Summe der Beobachtungen lassen sich Schlüsse ziehen.

Drohende Konflikte: Jürgen Wertheimer sucht nach erkennbaren Entwicklungen

Sie können nicht alles lesen, an welchen Stichworten machen Sie drohende Konflikte fest?
Wir gehen nicht nach Wortlisten vor. Die für uns entscheidenden Punkte lassen sich quantitativ nicht erfassen. Wir suchen nach qualitativ erkennbaren Entwicklungen. Es kommt auch auf Zwischentöne an, auf Halbausgesprochenes, auf Ambivalenzen, Ironie, auf den Zusammenhang, in dem eine Äußerung fällt.

Das bringen Maschinen nicht.
Einige Kollegen aus dem Cyber- und KI-Bereich sagen ganz klar, man könne nicht davon ausgehen, dass ein Rechner derzeit einen literarischen Text zu entschlüsseln vermag. Warum auch? Wir sollten nicht alle Kompetenzen an die KI delegieren, anstatt die eigene Intelligenz in Stellung zu bringen. Ein Leseprozess kann zeigen, was hinter vorgehaltener Hand gesagt wird, wie die Figuren empfinden, wie jemand sein Verhalten ändert, um etwa bei neuen Machthabern besser anzukommen. Genauso, wie sich die Stimmung eines Kollektivs in kleinen Schritten verlagert. Die Literatur gibt seismographisch genaue Gesamtporträts einer Gesellschaft. Sie zeigt die Kontexte, die verdeckte Seite der Geschichte. Sie registriert "Vorbeben". Wir laufen im Moment Gefahr, den Kontext und die Zusammenhänge zugunsten sogenannter Fakten zu verlieren.

Das "Cassandra Projekt" hat nur wenige Mitarbeiter. Wie kann das funktionieren?
In den Ländern, die wir beobachten, haben wir Kontaktautoren und Verlage, über die wir informiert werden. Zum Beispiel ein ganzes Netz von Autorinnen und Autoren im Maghreb. In einem Gebiet, in dem es zu "kriseln" beginnt, sondieren wir systematisch die Publikationen: von der trivialen bis zur Hochliteratur, von der linken bis zur rechten. Da ist ein Exilautor genauso dabei wie ein dem Machtapparat genehmer Autor. Um die Texte auszuwerten, haben wir eine Reihe von Kategorien entwickelt, nach denen wir sie rasterartig erschließen. Etwa das Erzeugen von Feindbildern, das Propagieren eines Zusammengehörigkeitsgefühls. Wann ändert sich eine Erzählweise so, dass aus dem "Wir" ein "Die" wird? Wann werden aggressive Mythen in Stellung gebracht. All diese Daten übertragen wir auf eine sogenannte "Emotion Map", die später auf Anhieb zu verstehen ist.

Wie wird das "Cassandra Projekt" finanziert?

Sie sind bis vor Kurzem vom Verteidigungsministerium gefördert worden.
In der Tat hatte und hat man dort Sinn für die Aussagekraft von Literatur.

Und wie finanzieren Sie sich weiter?
Wir müssen neue Partner finden. Es bahnen sich Kontakte an, etwa mit Cyberagenturen, vielleicht auch mit der Nato und der Militärakademie West Point. Leider noch nicht mit der EU. Sie alle erkennen, Literatur ist im Grunde ein virtuelles Medium. Fiktion ist verbalisierte Hellsichtigkeit. Aber die Zeit drängt. Die Ukraine und Weißrussland sind höchst labile Gebiete. Dort gibt es großartige, alarmierende Literatur, die danach schreit, jetzt eingesetzt zu werden. Es ist uns zu meiner Freude gelungen, eine der bedeutendsten belarussischen Autorinnen, die Nobelpreisträgerin Svetlana Alexijewitsch, für das Kassandra gewidmete Literaturprogramm der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar zu gewinnen.

In Afghanistan hätte man keine Literatur gebraucht, um zu sehen, dass die Taliban das Land wieder "übernehmen".
Stattdessen hatte man sicherlich unendliche viele Daten und Informationen der Geheimdienste – die offenbar ohne jede Wirkung blieben. Wenn man abgesehen davon nur ein bisschen in die afghanische Literatur und in die Geschichte geschaut hätte, wäre bereits vor Jahrzehnten vieles klargeworden und man hätte dieses Land nicht so gravierend unterschätzt. Afghanistan hat im Verlauf des 19. Jahrhunderts drei Kriege gegen westliche Kolonialmächte gewonnen. Betrachtet man die geografische und mentale Topografie dieser Region, wäre man sicher weniger naiv in das ganze Unternehmen gegangen. Hätte auf dieses unterm Strich sinnlose, halbherzige Abenteuer vielleicht sogar verzichtet.

"Man hat das Phänomen des Impfens nicht hinreichend erklärt"

Michel Houellebecq wird seit den Anschlägen auf die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" gerne als Kassandra bezeichnet. Was kann ein demokratischer Staat tun?
Die Anschläge hätte man sicher nicht verhindern können, aber Houellebecq ist ein gutes Beispiel für das langfristige Phänomen der Warnungen Kassandras. Houellebecqs Buch "Unterwerfung" schildert ja keine aktuelle Gefährdung, sondern den schleichenden Prozess einer ideologischen Unterwanderung. Da werden Kompromisse eingegangen, die Vorteile zu bringen scheinen und die eigenen Einstellungen ignoriert. Das Ganze ist nicht nur eine Warnung vor Islamisten bzw. dem politischen Islam, sondern vor uns selbst, vor unserer Saumseligkeit, die sich manchmal als Toleranz verkleidet und uns von der Handlungsverantwortung befreit.

Nicht nur bei diesem Roman Houellebecqs gingen die Wellen ziemlich hoch.
Weil Houellebecq einen Nerv trifft. Andernfalls würde das, was er schreibt, nicht so sehr provozieren und verärgern. Indem er den Finger in die Wunden der Gesellschaft legt, zwingt er zum Nachdenken. Oder nehmen Sie Julie Zeh. In "Corpus Delicti" schreibt sie bereits 2009 darüber, dass sich Menschen durch eine manifest werdende "Gesundheitsdiktatur" ausgegrenzt und marginalisiert fühlen. Jetzt erleben wir ganz erstaunt, dass sich plötzlich so etwas wie eine Querdenker-Szene bildet.

Und was würden Sie tun?
Zu diesem Zeitpunkt gibt es keine einfachen Rezepte mehr. Wir sehen ja, wie unsicher die Politik im Umgang mit diesem Phänomen ist, das Thema Impfpflicht umschleicht und hofft, dass Omikron als "schmutzige Impfung" das Problem entschärft. Mir fällt auf, dass auf beiden Seiten immer die Bemerkung fällt: Mit denen kann man nicht sprechen, das hat überhaupt keinen Sinn. Offenbar hat man den richtigen Zeitpunkt verpasst.

Hat man den Widerstand gegen das Impfen unterschätzt?
Man hat das Phänomen des Impfens nicht hinreichend kommuniziert. Der Akt des Impfens ist nicht nur ein medizinischer und naturwissenschaftlicher Vorgang, sondern auch ein sozialer und psychologischer, der tief ins Gefühl vom eigenen Ich eingreift. Es wäre die Pflicht der Politik wie auch der großen Hersteller gewesen, dies von Beginn an mit zu bedenken. Die Angst vor dem Prinzip "Gates" und vor Verschwörungen datiert schließlich nicht von gestern. Jetzt sind wir im Zustand der Volleskalation. Auch hier gilt: Im Vorfeld hätte man das Potenzial der Aggressivität sehr viel besser abfangen können.

Gibt es für Kassandra überhaupt Grund zur Hoffnung?
Wenn wir endlich unsere Verantwortung und unsere Handlungsmöglichkeiten erkennen, ja. Ich habe den Eindruck, dass derzeit eine gewisse Öffnung in Richtung Vorausschau und Prävention zu beobachten ist. Auch wird die Kunst als ein Medium der Intervention etwas ernster genommen. Insofern sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben.  


Jürgen Wertheimer: "Sorry Cassandra! Warum wir unbelehrbar sind" (Konkursbuch, 180 Seiten, 15 Euro); www.projekt-cassandra.net

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