Pioniere der Höhe - Reinhold Messners neues Buch

Natürlich kann auch Reinhold Messner die Geschichte aller alpinen Pioniertaten in einem Buch zusammenstellen, aber sein üppigst bebildertes neues Werk "Zwischen Durchkommen und Umkommen" stellt punktuelle Heldentaten und Katastrophen in den Mittelpunkt, zitiert aus den Originalschilderungen von Bergsportlern und versucht eine Bestandsaufnahme, in welche Richtung sich das Verhältnis zwischen Mensch und Berg entwickeln kann.
AZ: Herr Messner, Paul Preuß stellte vor über hundert Jahren den Leitsatz auf, dass es die Berechtigung für den Einsatz von Hilfsmitteln nur bei unmittelbarer Gefahr gäbe. Lionel Terray dagegen beschreibt, wie er eine Strickleiter bei der Erstbesteigung des Fitz Roy einsetzt, um Material in Hochlager zu bringen. Wer hat recht?
REINHOLD MESSNER: Man darf alles. Preuß hat nie daran gedacht, ein Reglement aufzustellen. Er hat nur gesagt, wenn wir alles nutzen, was es gibt, dann wird das Bergsteigen obsolet - und wir sind jetzt sehr knapp davor. Deswegen habe ich mich ja entschlossen, die Pandemie zu nutzen, um das Erbe des traditionellen Alpinismus aufzuschreiben. Das ist ja nicht mein Erbe allein, sondern das Erbe von Tausenden von Bergsteigern, das ich weitergeben möchte - genau in dem Jahr übrigens, in dem Hallenklettern erstmals olympisch geworden ist.

Sie sind dagegen?
Nein, das ist ein großartiger Sport und ein unglaublicher Hype: Allein in Tokio gibt es über 800 Hallen. Aber wenn die Leute Hallenklettern sehen und dann denken, das sei das, was ich mein ganzes Leben lang gemacht habe, dann ist das eine Beleidigung.
Gibt es die eine Pionierleistung vor Ihrer Zeit, die Sie am meisten bewundern?
Terray am Fitz Roy gehört auf jeden Fall dazu, knapp davor würde ich die Erstbegehung der Eiger Nordwand 1938 einstufen, eine der ganz großen Pionierleistungen. Berghistoriker können relativ gut sagen, was die Schlüsselgeschichten sind, die sind in meinem Buch erzählt. Mir aber geht es nicht nur um die bergsteigerische Tat, sondern auch um die Auseinandersetzung in der Erzählform, welche auch immer gewählt wurde. Das Bergsteigen ist die einzige sportliche Tätigkeit, die Philosophie und Literatur hinterlassen hat. Es gibt zigtausende Bücher und Erfahrungsberichte, einige davon sind hohe Literatur. Ein Bergsteiger, der nur irgendwo heraufgeht, ist uninteressant.
Das sagen Sie als rhetorisch begabter Bergsteiger...
Es gab vor mir schon Bergsteiger, die ihr Erbe weitergegeben haben. Und das Ganze nehme ich auf und bündele es, um zu zeigen, wo wir jetzt stehen.
Messner über die Unterdrückung von Bergsteigerinnen
Zur Geschichte des traditionellen Alpinismus gehört auch die lange anhaltende Unterdrückung und Verachtung der Bergsteigerinnen.
Frauen waren lange kein Teil dieser Machogesellschaft, die Bergsteiger wollten die Frauen nicht dabei haben. Das war Männersache. Das hat sich gründlich geändert. In der jüngeren Zeit sind Frauen vollständig akzeptiert….
...und den Männern auch keineswegs unterlegen.
Nein, gar nicht. Frauen haben, weil sie meist leichter sind, in großer Höhe einen Vorteil, beim Klettern ebenso. Die Nose am El Capitan ist die berühmteste Kletterroute der Welt. Die besten männlichen Kletterer sind Jahrzehnte daran gescheitert, die Route frei zu klettern. 1993 gelang dies schließlich Lynn Hill. Unten standen 50 männliche Kletterer mit dem Fernglas und waren überzeugt, dass sie es nicht schaffen könnte. Sie hat es aber geschafft, kam wieder runter und hat zu den anderen gesagt: "Jungs, es ist möglich. Man muss es nur können." Es hat dann noch einmal zwölf Jahre gedauert, bis ein Mann ihr folgen konnte.
Nicht nur die Frauen waren zu lange Randfiguren, auch die örtlichen Helfer standen zu lange im Schatten.
Nach hundert Jahren der Ausbildung, zuerst allerdings der Ausnutzung, haben sie die westlichen Bergsteiger überholt. Sie sind jetzt die Besten im Himalaya. Ich kenne seit 1980 die Pläne der damals bekannten Bergsteiger, alle 14 Achttausender innerhalb eines Jahres zu besteigen. Keiner hat es gewagt. Aber Nirmal Purja hat es 2019 mit seinem Team gemacht - in sieben Monaten. Kein Wunder, dass die Bergsteiger der Hunza, Balti, Gurkha und Sherpa nicht länger nur die Helfer sein wollen.

Der Kampf um Sponsoren
Ein Aspekt der Spitzenbergsteigerei wird auch in Ihrem Buch erwähnt: Der Kampf um die Sponsoren, die Präsenz in den Sozialen Medien.
Diese Welt habe ich gar nicht mehr kennengelernt. Ich hatte aber auch meine Sponsoren, um die Expeditionen zu finanzieren. Das ist immer gefährlich, weil ein Druck entsteht und man die Grenze zum Scheitern immer weiter verschiebt. Aber Scheitern muss möglich sein. Und der junge Fabian Buhl erzählt in meinem Buch von einer Konkurrenz unter den großen Ausrüsterfirmen, die Druck aufbauen auf die von ihnen finanzierten Bergsteiger. In meiner Zeit gab es ein Hundertstel des Umsatzes in der Sportbekleidung wie heute. Heute ist viel mehr Geld im Spiel, aber der Konkurrenzdruck ist enorm. Das ist mit Vorsicht zu genießen.
Es stellt sich auch die Frage, was denn heute noch eine spektakuläre Pioniertat sein könnte?
Allein mit dem Blick auf die Außenwirkung wird das immer schwieriger. Der Laie versteht die Pioniertat, den Mount Everest als Erster zu bezwingen, aber eine irre schwierige Wand im Karakorum an einem nur in der Szene bekannten 7000er? Das können nur noch Spezialisten einordnen. Aber um das geht es nicht. Es geht um die Erfahrung, die jemand macht. Die großartige Zeit, die ich erlebt habe, ist vorbei. Wir waren die erste Generation, die überall hinreisen konnte. Die Generation vor mir musste mit dem Schiff nach Südamerika, brauchte Monate bis zum Himalaya. Die konnten vielleicht zwei, drei große Expeditionen im ganzen Leben machen. Wie sollten die Erfahrung aufbauen? Ich habe 100 solcher Reisen gemacht und konnte davon lernen.
Bergsteigen ist egoistisch
Sie schreiben, Bergsteigen ist egoistisch.
Das ist es, ja. Wir tun das ja nicht für andere. Natürlich hängt das Zusammen mit Ehrgeiz, mit hohen Ansprüchen an sich selbst. Die kritische Auseinandersetzung ist nur die, die im Titel steht: "Zwischen Durchkommen und Umkommen". Das Umkommen dürfte nach unseren Maßstäben nicht vorkommen. Aber wer nicht einsieht, dass er am Berg umkommen kann, der hat den Berg nicht verstanden.

Aber Pionierleistungen gibt es ja nur durch Grenzüberschreitungen.
Ich habe mich nie in Lebensgefahr begeben, aber ich wusste immer, dass etwas passieren kann. Das hat im Vorfeld auch viel mit Zweifeln und Ängsten zu tun. Der Berg ist völlig absichtslos, nur wir haben Absichten. Der Schlüssel zum Verständnis ist, dass wir zwischen der Nützlichkeit und der Sinnhaftigkeit ganz scharf unterscheiden. Niemand, der große Touren macht, handelt nach Nützlichkeit, sondern er macht sich das zum Ziel, er macht es sich damit selbst sinnvoll. Er fokussiert sich auf die Geschichte und bereitet sich vor. Zwischen der Nützlichkeit im Leben und der Sinnhaftigkeit liegt das tiefste Tal der Welt.
Ihre These lautet: ohne existenzielle Gefahr keine Erfahrung.
Wenn ich das Umkommen ausschließe, weil ich eine Piste auf den Everest baue, dann ist das nicht mehr traditioneller Alpinismus. Der traditionelle Alpinismus findet nur dort statt, wo ich umkommen könnte.
"Wir kommen aus dieser Krise der globalen Erderwärmung nur mit Fortschritt heraus"
Ihr persönlicher CO2-Fußabdruck durch die Flüge zu den ganzen Expeditionen ist gigantisch, nachfolgende Generationen dürften eigentlich nicht mehr so leben, um ihre eigenen Abenteuer zu sammeln.
Wenn ich zynisch bin, dann stelle ich dem meinen Wald entgegen. Ich habe einen unzugänglichen Wald in Südtirol, wo seit Jahrhunderten kein Baum herausgeschlagen wird. Der wächst weiter und sammelt CO2 ein. Aber klar, das ist eine Ausrede. Die Bergsteiger sind nicht die Belastung der Atmosphäre, die kommt aus den Ballungszentren und den riesigen Industrieanlagen. Und ich bin jetzt langsam skeptisch: Freitags die Schule zu schwänzen, reicht nicht. Ich will Vorschläge haben und nicht nur den Vorwurf, die Generationen vor ihnen hätten alles versaut. Wir kommen aus dieser Krise der globalen Erderwärmung nur mit Fortschritt und Technologie heraus, da teile ich die Einstellung von Christian Lindner. Diese Technologie kann man in China entwickeln, in Amerika, aber auch bei uns. Da muss eingegriffen werden.
Reinhold Messner: "Zwischen Durchkommen und Umkommen" (Ludwig Verlag, 304 Seiten, 32 Euro)