Neues Buch von Zora del Buono: Die Suche nach dem "Töter" ihres Vaters

Kann man etwas vermissen, was man nie hatte, geschweige denn kannte? Den Vater - zum Beispiel? Der war Arzt und aus Bari in die Schweiz gekommen. Dort hatte er eine Deutschschweizerin geheiratet. Er starb mit 39 Jahren bei einem Autounfall auf einer Landstraße. Ein 28-Jähriger hatte riskant überholt und war dem Vater frontal in den Wagen geprallt. Der Vater starb einige Tage später im Krankenhaus. Zora war erst acht Monate alt.
Suche nach dem "Töter" ihres Vaters
Heute ist Zora del Buono 62 Jahre - und erst kurz zuvor hat sie sich auf eine Suche gemacht: die Suche nach dem "Töter" ihres Vaters, eines Vaters, den es für sie so nie gab. Aber das Schuldgefühl, ihn auch nicht vermisst zu haben. Oder im Innersten doch?
"Autofiktion" ist eine modische Benennung, wenn ein Autor in seine Autobiografie Fiktionales mischt, was fast zwangsläufig der Fall ist. Denn wer kann seiner Erinnerung uneingeschränkt trauen?
Eine literarische Recherche - mit Listen und Diskussionen
Hier, in del Buonos "Seinetwegen", liest man aber etwas anderes, das schwerer literarisch einzuordnen ist: Es ist eine Recherche, in die sich Reflexionen mischen - oder auch Listen: wie Unfallstatistiken, die anregen nachzudenken, welchen Preis an Menschen- und Tierleben uns der automobile Freiheitsgedanke wert ist. Oder: eine exhibitionistische Liste der psychischen Deformationen der Autorin, die "Seinetwegen" - also des Totfahrers ihres Vaters wegen - in ihrem Leben entstanden sind: Bindungsunfähigkeit zum Beispiel - aus Angst, etwas, das nah sein sollte, unerwartbar verlieren zu können.

In die Suche nach den betroffenen Aspekten ihres Lebens sind auch Caféhaus-Gespräche mit einer Freundesgruppe in Berlin eingeschoben: eine plaudernd eingestreute, intellektuelle Metaebene. Man redet da skizzenhaft kurz, aber psychologisch und philosophisch informiert über Vaterlosigkeit, Schuld und Weiterleben, Täterprofile, Autofahrermentalitäten. Und dann sind noch Kindheits- und Familienfotos in die 200 schnellen Seiten eingefügt, bis hin zu Todesanzeigen.
Das alles könnte auf den ersten Blick fahrig, mäandernd wirken. Aber die verschiedenen Textspielarten haben in ihrer Wiederkehr einen Rhythmus, eine Ordnung. Und dann gibt es noch im Fragmentarischen den kunstvollen Aspekt der zunehmenden Dynamik: Denn wie in einem Krimi kommt del Buono dem Totfahrer ihres Vaters immer näher: aus "diesem Typen" wird "E.T.", dann Ernst Traxler. Der Tat- und Wohnort wird aufgesucht, Lebensumstände des anderen erforscht, die Gerichtsakten eingeführt.
Wie kommt man einem Täter näher?
Und im Näherkommen geschieht das Unheimliche: aus dem Monster der Kindheit und Jugend, dem Verdrängten des bisherigen Lebens wird: ein Mensch. Und kann man nicht - und das ist der humanistische Boden des Buches - mit jemand Empathie empfinden, wenn man das, was ihn in der eigenen Projektion bisher zur Unperson gemacht hat, durch Informationen immer mehr in Frage stellt und Schritt für Schritt hinter sich lässt?
Dieser andere, der unbekannterweise del Buonos Leben seit kurz nach ihrer Geburt entscheidend beeinflusst hat, ist ein Spiegel, der reflektierend auch die Sicht auf das eigene Leben und die jahrzehntelangen Gefühle und Nichtgefühle verändert. Am Ende, also heute, ist del Buono selbst eine andere, als sie noch zu Beginn der Recherche erst vor wenigen Jahren war.
Eine subtile Abrechnung mit der Schweiz
Einer der Reize des Buches ist, dass auch die Schweiz reflektiert wird: als verdrängend, dünkelhaft, konservativ, provinziell, rassistisch gegenüber "Gastarbeitern", was die Autorin als Kind eines Italieners beschämt wahrnahm, auch wenn ihr Migrationshintergrund als Arzttochter natürlich ein privilegierter war. Aber das Schweizbild der Autorin ist natürlich auch ein indirekter Spiegel unserer Bundesrepublik der 60er- und 70er-Jahre. Zora del Buono selbst floh als Twen in das damals schäbig wilde Berlin der 80er. Das ermöglicht ihr die deutsch-schweizer Doppelperspektive auf die Sittengeschichte. Die ermöglichte es ihrer Mutter als früher Witwe auch nicht mehr, glücklich zu werden, weil eine Alleinstehende von der bürgerlichen Ehepaar-Umgebung nicht mehr eingeladen wurde.
Umziehen, verfrachten? Ich bin verantwortlich
Und mit der Betrachtung auch der Mutter tut sich ein weiterer kleiner, aber gewichtiger Baustein des Buches auf: der Umgang mit der jetzt alten Mutter - die, zunehmend dement, letztlich ins Pflegeheim muss. Und auch hier ist del Buono ungefiltert analytisch: "Heute ist Mutter ins Pflegeheim umgezogen. Umgezogen ist ein Euphemismus - man hat sie hinverfrachtet. Und man ist auch nicht korrekt: Ich habe es veranlasst…"
Zora del Buono hat schon mit ihrem Roman "Die Marschallin" einen Teil ihrer Familiengeschichte - hier in Form ihrer herrischen Großmutter, die bei der Geburt ihrer Mutter starb - verarbeitet. Ihr neues Buch "Seinetwegen" hält sie bei aller Individualität für noch allgemeingültiger: "In jeder Familie gibt es Verschwiegenes. Und alle halten sich daran", hat sie in einem Gespräch mit der AZ dazu gesagt. Sie selbst hat es - nach Jahrzehnten - anders gemacht.
Zora del Buono: "Seinetwegen" (C.H. Beck, 204 Seiten, 23 Euro)