Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld: "Wir diskutieren gar nicht erst über die Angst"

AZ-Interview mit Beate Klarsfeld: Die deutsch-französische Aktivistin (82) aus Paris hat mit ihrem Mann Serge (85, rechts) NS-Täter wie Kurt Lischka und Klaus Barbie aufgespürt. Für Ihr Lebenswerk erhielt sie 2015 das Bundesverdienstkreuz.
Die Ohrfeige saß. Beate Klarsfeld hat sie berühmt und die Nazi-Vergangenheit von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger bekannt gemacht. 1968 war das, seither haben Beate und ihr Mann Serge Klarsfeld NS-Verbrecher um die ganze Welt gejagt, um sie vor Gericht zu bringen. Jetzt erscheint eine Graphic Novel über das aufregende Leben des Ehepaars. Im AZ-Gespräch blickt Beate Klarsfeld auf ein oft lebensgefährliches Engagement, das noch lange nicht zu Ende ist.
Nazi-Jäger als Comichelden
AZ: Frau Klarsfeld, lesen Sie Comics?
BEATE KLARSFELD: Ich nicht, aber mein Mann hat von klein auf Comics gelesen, auch meine Kinder. Jetzt sind schon die Enkel dran, die unser Buch auf Französisch bekommen haben.
Und?
Sie finden es toll, dass ihre Großeltern Comic-Helden sind.
Mussten Sie nicht von den Autoren überredet werden?
Wir hatten Bedenken, dass unsere Geschichte plakativ verkürzt wird. Aber Pascal Bresson und Sylvain Dorange waren an den Details interessiert. Und es gibt ja schon einige Bücher über Serge und mich, einen Spielfilm mit Franka Potente, Dokumentationen, ein Theaterstück und eine Oper. Warum also nicht auch einen Comic. Damit erreicht man ein anderes, jüngeres Publikum.
Sie sind mit der Ohrfeige in die Geschichte eingegangen. Woher haben Sie den Mut genommen, jemandem quasi auf den Leib zu rücken? Und als Frau.
Die Ohrfeige kam ja nicht aus heiterem Himmel, sie hatte eine lange Vorgeschichte, die letztlich mit meiner Ankunft 1960 in Paris begann: als ahnungsloses Au-pair-Mädchen, das weder von den Eltern noch von den Geschichtslehrern etwas über den Zweiten Weltkrieg erfahren hatte. Dann lernte ich meinen Mann kennen, dessen Vater in Auschwitz ums Leben gekommen war, und begriff, welche historische Schuld auf meiner Nation lastet. Als 1966 mit Kurt Georg Kiesinger ein ehemaliger Nazi-Propagandist aus dem Reichsaußenministerium Bundeskanzler wurde, waren wir völlig entsetzt und haben sämtliche Akten über ihn zusammengetragen.
Rede Gegen Kiesinger: "Nazi, tritt zurück!"
Die Vergangenheit schien damals keinen zu interessieren.
Nicht einmal die Historiker haben sich darum gekümmert! Wir informierten die Abgeordneten, aber niemand hat reagiert. Also musste ich für Öffentlichkeit sorgen. Ich habe Kiesinger bei seiner Rede am 2. April 1968 im Bundestag in Bonn mit "Nazi, tritt zurück!" unterbrochen. Doch erst die Ohrfeige am 7. November 1968 auf dem CDU-Parteitag in Berlin hat Wirkung gezeigt. Dabei ging es um viel mehr: Stellvertretend für die jungen Deutschen habe ich ihre Nazi-Väter geohrfeigt.
Hatten Sie keine Angst, dass es schief geht?
Es war schwer, in die Kongresshalle zu kommen, ich konnte dann auf dem Podium auch nur hinter ihm durchgehen. Das führte dazu, dass ich ihn am rechten Auge getroffen habe. Das wurde braun wie seine Vergangenheit. Natürlich war das gefährlich! In der ersten Reihe saßen Sicherheitsleute, die mich hätten erschießen können, ja. Aber an das denkt man nicht.
Kiesinger ließ sich nicht einschüchtern und ist 1969 noch einmal zu Wahl angetreten. Sie haben im selben Wahlkreis im badischen Waldshut für die Aktion Demokratischer Fortschritt kandidiert.
Damit hatte ich die Gelegenheit, den Wahlkampf ganz offen gegen ihn zu führen. Ich wurde von vielen jungen Leuten unterstützt, und überall, wo Kiesinger sprach, hörte er "Nazi abtreten!". Jetzt konnte er seine Vergangenheit nicht mehr leugnen. Er wurde ja auch nicht mehr gewählt, sondern Willy Brandt, für den ich mich sehr eingesetzt hatte.
Haben Sie jemals versucht, mit Kiesinger zu diskutieren?
Wir standen uns in den ganzen Demonstrationen gegenüber, aber man kann nicht mit einem Mann diskutieren, der sich ständig rausgeredet hat. Auch als wir Kurt Lischka, der für die Deportation von 75.000 Juden aus Frankreich verantwortlich war, die beweisenden Dokumente vorgelegt haben, kam es zu keinerlei Bedauern. Was wollen Sie mit solchen Leuten noch besprechen?
Politiker diskutierten nicht mit Frauen
Die Herren Politiker waren es damals nicht gewohnt, mit Frauen zu diskutieren.
Es war ja schon unglaublich, dass diese Ohrfeige von einer deutschen Frau kam, die weder Widerstandskämpferin noch Jüdin war. Der Richter damals meinte noch, "Sie als Frau können doch nicht!".
Woher kam dieses Selbstverständnis?
Nicht von zu Hause. Als ich mit 21 nach Paris ging, habe ich ja nicht studiert, sondern im Haushalt gearbeitet. Aber es stimmt schon, mit meinen Aktionen riskierte ich als Frau bestimmt mehr als ein Mann. Gerade auch, als ich Anfang der 70er Jahre in Bolivien Klaus Barbie, den "Schlächter von Lyon", aufgespürt habe oder dann Mitte der 80er Jahre in den damaligen Militärdiktaturen Chile und Paraguay die Kriegsverbrecher Walter Rauff und Josef Mengele.
Wie sehr hat diese Politisierung mit Ihrem Mann zu tun?
Jeder von uns hatte seinen Kampf zu führen. Mein Vater war in der Wehrmacht gewesen, meine Eltern haben sicherlich Hitler gewählt. Und Serge war ein jüdischer Junge, der wie ein Wunder der Deportation entging. Meine Eltern hatten es sehr schwer nach dem Krieg, aber es war kein Schuldbewusstsein da, es hieß nur "wir haben den Krieg verloren". Dass ihn die Deutschen angezettelt haben, kam nie zur Sprache. Man wollte vergessen, das Land aufbauen. So konnten die alten Nazis wieder in Amt und Würden kommen oder einfach da bleiben, wo sie vor 1945 waren. Aber hätte ich Serge nicht kennengelernt, würden Sie mich heute nicht anrufen. Es war Zufall, dass wir uns am Bahnsteig getroffen haben.
Vorbilder: Hans und Sophie Scholl
Die Geschwister Scholl spielen eine wichtige Rolle in Ihrem Engagement. Kann man von Vorbildern sprechen?
Das sind sie sogar für meinen Mann. Wenn er mich kritischen Freunden vorstellte, hat er immer auf Hans und Sophie Scholl verwiesen, die sich aufgelehnt haben und ihr Leben lassen mussten. Die Geschwister Scholl haben aber auch gezeigt, dass wir Jungen uns nicht schuldig fühlen müssen.
Wie hat die Familie auf Ihre riskanten Aktionen reagiert?
In der französischen Familie gab es immer einen großen Rückhalt. Meine Schwiegermutter, die immerhin ihren Mann im KZ verloren hatte, nahm mich mit offenen Armen auf. Ihr war völlig klar, dass Serge und ich uns auch für sie und den Vater engagieren. Meine Mutter war dagegen richtig wütend auf mich, weil sie von den Nachbarn beschimpft wurde und sich Worte wie "Nestbeschmutzerin" anhören musste. Erst als sie meine Schwiegermutter in Paris kennengelernt hat, begriff sie, weshalb unsere Arbeit so wichtig war. Aber natürlich haben sie auch Angst um uns gehabt.
Ihre Schwiegermutter bekam die Bedrohung genau mit.
Wir haben zeitweise bei ihr gewohnt, und sie nahm auch das Paket mit der Bombe in Empfang. Zum Glück ging Serge damit gleich auf die Polizei. Im Auto war auch einmal Sprengstoff verbaut - Serge wollte unseren Sohn Arno zur Schule bringen. Die vielen Drohanrufe kann ich gar nicht aufzählen.
1986 haben Sie sich der islamistischen Miliz Hisbollah im Austausch gegen israelische Geiseln angeboten. Hatten Sie keine Sorge, dass Sie das nicht überleben könnten?
Bei all diesen Aktionen ist klar, dass man sein Leben riskiert. Bei meinen Demonstrationen gegen die Militärjunta in Argentinien wurde ich verhaftet, und auch in Deutschland saß ich im Gefängnis, weil wir Kurt Lischka versucht haben zu entführen. In solchen Situationen entwickelt man viel Kraft.
Trotzdem, wie hält man es aus, ständig mit grausigen NS-Verbrechen konfrontiert zu sein?
Das Grausame haben wir vor allem in den Dokumenten gesehen, und uns ging es einfach um Gerechtigkeit. Kurt Lischka, Klaus Barbie oder der SS-Obersturmführer Kurt Asche, der in Belgien die Deportation von 25.000 Juden und Sinti nach Auschwitz veranlasst hatte, mussten sich für ihre Verbrechen vor Gericht verantworten. Damit hatte unsere Arbeit einen Sinn. Das hilft, diese fürchterlichen Geschichten zu verkraften. Aber wir haben immer ein ganz normales gutes Familienleben geführt, diese Aktionen waren ein Teil, aber nicht das ganze Leben.
Für Die Linke haben Sie für das Amt der Bundespräsidentin kandidiert und genauso den konservativen Nicolas Sarkozy unterstützt. Wie würden Sie sich politisch einordnen?
In der Mitte. Serge und ich wählen diejenigen, die für die Demokratie und Europa kämpfen. Das war bei der letzten Wahl Emmanuel Macron. Und bei der nächsten geht es darum, dass die Rechten nicht wieder so stark werden und Marine Le Pen noch einmal in die Stichwahl kommt.
"Die rechten Parteien werden stärker"
Kann man aus der Geschichte überhaupt lernen?
Sie sehen die Entwicklungen, die rechten Parteien werden stärker. Als wir in den 1960er Jahren gegen die NPD demonstrierten, hatten die sechs oder sieben Prozent, dann ging es unter die fünf Prozent-Marke. Aber die AFD kommt inzwischen spielend in die Parlamente. Auch in Frankreich waren die Rechtsextremen mal klein und haben stark zugenommen. Ich bin jetzt 82 und weiß, wohin das führen kann. Aber die Jungen wissen nicht, was Krieg bedeutet, was es heißt, für eine Einstellung getötet zu werden. Darin liegt eine große Gefahr. Und es genügt nicht, Gedenkstätten zu besuchen, es braucht jemanden, der erzählt und erklärt, was passiert ist, also eine echte Auseinandersetzung.
Fühlen Sie sich nach der langen Zeit in Paris eher als Französin?
Als Französin, weil ich dort lebe, aber meine Aktionen mache ich als Deutsche.
Wovor haben Sie Angst?
Beim Wahlkampf gegen Kiesinger haben mich ein paar junge Leute im Auto mitgenommen. Die sind wie die Verrückten gerast. Da hatte ich wirklich Angst. Ansonsten diskutieren wir gar nicht erst über die Angst, die kommt bei uns nicht vor.
Pascal Bresson, Sylvain Dorange: "Beate & Serge Klarsfeld" (Carlsen, 208 Seiten, 28 Euro)