Münchner Kriegsberichterstatterin: "Ich empfinde es als Pflicht hinzuschauen"

AZ: Frau Leeb, Sie wurden in Libyen fast bei einem Granatenangriff getötet, in Kairo von Kriminellen verschleppt und misshandelt. Warum zieht es Sie trotzdem immer wieder in Krisengebiete?
JULIA LEEB: Es ist eine Jagd nach dem Verstehen-Wollen: Ich habe das tiefe Verlangen, die Welt, in der ich lebe, zu begreifen und mit eigenen Augen zu sehen.
Kriegsgebiete: Schlimme und wunderbare Erfahrungen
Wie gehen Sie mit den Dämonen um, die Recherchen in Kriegsgebieten in der Regel mit sich bringen?
Es stimmt: Ich habe sehr viele, sehr schlimme Erfahrungen gesammelt - aber auch wunderbare. Ein Grund dafür, immer weiterzumachen, ist, dass man Hoffnungsträger trifft, die einem auch für das eigene Leben wieder Zuversicht schenken: Ärzte, Krankenschwestern, Mütter, die heilen und das Leben aufrecht erhalten, die im Sinne der Gemeinschaft denken und eine Zukunft aufbauen wollen. Außerdem gibt es keine Alternative: Auf Instagram werden alle paar Minuten Millionen von Bildern hochgeladen, aber fast niemand zeigt Somalia oder den Jemen. Auch Menschen, die in einer Diktatur leben, können nicht einfach mal so posten. Deshalb empfinde ich es als eine Pflicht, genau dort hinzuschauen.

Wie schwer ist es, gerade in der arabischen Welt, als weibliche Berichterstatterin akzeptiert zu werden?
Als Frau diesen Beruf auszuüben, hat natürlich Nachteile - aber auch Vorteile: Ich erhalte Zutritt zu Gemächern oder Situationen, die meinen männlichen Kollegen verwehrt bleiben: zum Beispiel zu einer Geburt, mitten im kongolesischen Dschungel. Ich kann in Libyen mit den Frauen sprechen. Und auch sonst habe ich es in der arabischen Welt sehr oft erlebt, dass die Menschen das Gastrecht sehr ernst nahmen und mit allen Mitteln versuchten, mich zu beschützen.
Leeb darf praktisch nicht mehr in Syrien einreisen
Ein Land, in das Sie praktisch nicht mehr einreisen können, ist Syrien: Sie wurden scharf von der Opposition kritisiert, stehen aber auch auf der Schwarze Liste des Assad-Regimes. Wie kam es dazu?
Ich wurde von den Oppositionellen und den Exil-Syrern, die auf eine neue Regierung gehofft haben, als zu Assad-objektiv einkategorisiert und deshalb geächtet. Später teilte mir der Bundesnachrichtendienst mit, dass ich auch bei Assad auf der Schwarzen Liste bin. Als freie Journalisten ist es natürlich sehr unangenehm, wenn man Feinde auf beiden Seiten hat. Aber objektiver Journalismus bedeutet für mich, dass man sich nicht mit einer Sache gemeinmacht - auch nicht, wenn es vermeintlich die gute ist. Insofern könnte man auch sagen: Als objektive Journalisten habe ich alles richtig gemacht.
Sie begleiten den "Arabischen Frühling" seit seinen Anfängen vor zehn Jahren. Heute ist Ägypten eine Militärdiktatur, Libyen ein failed state und in Syrien herrscht Bürgerkrieg. Warum ist die arabische Revolution gescheitert?
Die Arabellion war mit so vielen Hoffnungen verbunden, weil sie von Jugendlichen initiiert wurde. Die Sympathie der ganzen Welt galt diesen jungen Leuten, die sich plötzlich etwas anderes vorstellen konnten: dass der Diktator nicht wie immer an Altersschwäche stirbt, sondern auch abtreten und zur Rechenschaft gezogen werden kann. Das ist ein gewonnener Denkraum, den es dort so davor nicht gab. Ich würde diesen Prozess noch nicht als abgeschlossen bezeichnen. Europa ist auch nicht in zwei Wochen entstanden. Hinzukommt, dass es immer leicht ist, mit dem Finger auf Nordafrika und den arabischen Raum zu zeigen und zu sagen, die Entwicklung dort gehe zu langsam oder in die falsche Richtung. Schauen wir doch mal auf uns, auf die verstörenden Bilder vom Sturm auf das Kapitol, auf die Herzkammer der Demokratie im mächtigsten Land der Welt. Vielleicht sollten wir auch einmal fragen, wohin wir uns in den vergangen zehn Jahren bewegt haben.
Nordkorea "ist ein Parallel-Universum"
Wechseln wir den Kulturkreis: Sie waren zwei Mal in Nordkorea, dem wohl am meisten abgeschotteten Land der Erde. Welche Eindrücke haben Sie dort gewonnen?
Es ist ein Parallel-Universum, konserviert in einer Zeitkapsel. Dieses Land ist das einzige, das von der Globalisierung vollkommen verschont geblieben ist. Die 25 Millionen Menschen, die dort leben, wissen nichts über uns - und wir genau so wenig über sie. Das weckt meine Neugier: Wie leben diese 25 Millionen Menschen? Deswegen bin ich dort hingefahren, um dem Alltag näher zu kommen. Doch das ist unglaublich schwer, weil es keine privaten Gespräche gibt.
Weil Sie ständig einen Aufpasser an der Seite haben?
Ja, aber auch, weil die Vorurteile beider Seiten unendlich groß sind. Man muss das im historischen Kontext sehen: Nach dem Fall von Japan im Zweiten Weltkrieg wurde seine Kolonie Korea aufgeteilt. Im darauf folgenden Koreakrieg wurde der mit China verbündete Norden von UN- und US-Truppen dem Erdboden gleich gemacht: Auf die Hauptstadt Pjöngjang fielen mehr Bomben, als sie Einwohner hatte. Die Angst vor einer erneuten totalen Vernichtung, vor Ausrottung, ist tief in der Seele der Nordkoreaner verankert. Deshalb stehen sie Menschen aus dem Westen nicht gerade offen gegenüber. Sie trauen Ausländern nicht. Und deshalb haben Raketen dort auch einen so hohen Stellenwert: als Mittel der Selbstverteidigung.

Freier Journalismus in einer gefährlichen Phase
Was bedeutet die Corona-Pandemie für Ihre Branche - außer, dass sie das Reisen deutlich erschwert?
Ich glaube, dass sich der freie Journalismus in einer sehr gefährlichen Phase befindet. Die Grenzen sind zu. Gleichzeitig gibt es immer mehr Angriffe auf Journalisten - und immer mehr Notstandsgesetze, die den Notstand für gewöhnlich überdauern. Sehen wir uns die Türkei an: Welcher freie türkische Journalisten berichtet denn noch aus diesem Land, in dem man ins Gefängnis kommt, wenn man zum unangenehmen Korrektiv wird - was doch eigentlich die Aufgabe von Journalisten ist. Andere Machthaber zeigen uns, dass man Journalisten auch direkt ins Grab befördern kann, ohne jegliche Konsequenzen. Irgendwann werden wir uns die Frage stellen müssen, welche Informationen wir noch neutral bekommen können. Ich denke, es ist sehr wichtig, vor Ort zu sein.
Wir stellen ein paar der Geschichten vor, die Julia Leeb erlebt hat:
Sudan: Ein Krankhaus in einer Hütte

Die Nuba-Berge liegen im Sudan, ethnisch und kulturell fühlen sich ihre Bewohner jedoch dem Südsudan zugehörig. Als dieser sich 2011 für unabhängig erklärt, bricht in der äußerst schwer zugänglichen Region ein Krieg aus. Die sudanesische Regierung fliegt Angriffe gegen Rebellen und Zivilbevölkerung. Um sich vor Bombensplittern zu schützen, graben die Menschen Erdlöcher, in die sie sich flüchten, wenn die Flugzeuge kommen.
In den Nuba-Bergen lernt Julia Leeb Dr. Ahmed Zacharia kennen. Sein "Krankenhaus" ist eine Hütte mit festgestampftem Boden (siehe Foto), ohne Strom, ohne Licht. Hier operiert er die Verwundeten, amputiert Gliedmaßen - Medikamente und Betäubungsmittel sind kaum vorhanden. Eine Universität hat der mutige Mann nie besucht. Sein Fachwissen stammt aus Büchern, die er nachts im Kerzenschein liest, und von einem US-Arzt, der in den Nuba-Bergen arbeitet. Zacharia und der Amerikaner sind die einzigen, die den rund einer Million Menschen dort medizinische Hilfe leisten. Insofern, sagt Zacharia zu Julia Leeb, sei ihm gar nichts anderes übriggeblieben.
Libyen: Im Wagen der Münchnerin schlägt eine Garante ein

In Libyen sind Julia Leeb und ihre Begleiter 2011 unterwegs in die Hafenstadt Brega, als dieses Bild entsteht: Rebellen grüßen die Reporter, einer zeigt grinsend das Victory-Zeichen. Wenig später finden sich Julia Leeb und die anderen in einem Alptraum wieder: Am Straßenrand stehen die ausgebrannten Wracks mehrerer Autos. Gerade saßen darin noch Familien auf der Flucht vor den vorrückenden Truppen des Machthabers Muammar al-Gaddafi. Leeb und ihr Team steigen aus, sie filmt die Pkw-Gerippe.
Dann schlägt eine Granate im Wagen der Münchnerin ein, einer ihrer Begleiter wird getötet. Die übrigen bringen sich - begleitet von Granaten-Einschlägen - hinter einer Düne in Deckung. Eine Ewigkeit harren sie dort aus, bis der Beschuss aufhört. Stundenlang laufen sie nachts durch die Wüste, bis ein Autofahrer sie mitnimmt und sie schließlich Bengasi erreichen. Endlich in Sicherheit - doch der Horror des Erlebten bleibt: "Überall sehe ich den Tod, er folgt mir", schreibt Leeb.
Transnistrien: Ein Land das es offiziell nicht gibt

Transnistrien ist offiziell Teil der Republik Moldau. 1990 erklärt sich die Region für unabhängig, was aber von keinem Staat der Erde anerkannt wird. Die Mehrzahl der Menschen dort hat russische Wurzeln und ist prorussisch eingestellt, der Kreml sichert seinen Einfluss durch Finanzhilfen. Diese Gemengelage beunruhigt internationale Beobachter. In diesem Land, das es offiziell nicht gibt, trifft Julia Leeb einen Offizier und seine Enkelin. Was die Deutschen über Transnistrien wissen sollten, fragt ihn die Münchnerin. "Dass hier auch Menschen leben, die auf ihrem Boden normal und friedlich leben wollen."
Ägypten: Am Jahrestag der Revolution

In Kairo hält Julia Leeb am 11. Februar 2011 auf dem Tahrir-Platz den Jubel der Menschen über den Sturz von Langzeit-Machthaber Husni Mubarak fest. Ein Jahr später kehrt sie in die ägyptische Hauptstadt zurück. Doch am Jahrestag der Revolution ist die Stimmung angespannt, aggressiv. Kriminelle drängen die Deutsche ab, verschleppen und misshandeln sie, bis Unbeteiligte ihr helfen und sich für die Angreifer entschuldigen.
Irgendjemand hält den Überfall in einem Handy-Video fest. 2016 taucht der Film plötzlich im Internet auf - und soll nun die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht belegen. Leeb ist fassungslos. Unter dem Titel "Breaking the silence" postet sie, wen die Bilder wirklich zeigen - und wo sie entstanden sind. Die Resonanz ist enorm, weltweit wird darüber berichtet.